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  • 18. Januar 1871: Proklamation des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles

„S' ist gar nischt!'% meinte der Portier

  • Lesedauer: 3 Min.

In den Januartagen 1871 war der Krieg in Frankreich, begonnen im Sommer 1870, noch immer in vollem Gange. Auch die Berliner hofften auf sein baldiges Ende. Als sie am 20. Januar bemerkten, daß auf dem preußischen Kriegsministerium in der Leipziger Straße die Flagge gehißt wurde, dachten viele, Paris sei gefallen. Eine Augenzeugin berichtete: „Wir fragen den Portier des Ministeriums. Der antwortet: 'S'ist gar nischt'. Wir fragen, fragen. Endlich: 'Der König ist Kaiser geworden!'“ Die Berliner zeigten sich erstaunt.

Noch erstaunter wären sie wohl gewesen, hätten sie die näheren Umstände der berühmten Kaiserproklamation im fernen Versailles, nahe.der belagerten französischen Hauptstadt', erfahren. Dem feierlichen Akt war ein kompliziertes Spiel hinter den Kulissen voraus-

gegangen. Bismarck hatte alle seine diplomatischen Künste aufbieten müssen, die süddeutschen Staaten zu bewegen, den König von Preußen als unumstrittenes Oberhaupt des neuen Reiches anzuerkennen. Nach großer Mühe war der eitle Bayernkönig gewonnen worden, seinem preußischen Kollegen namens aller deutschen Fürsten die Kaiserwürde anzutragen.

Aber dieser selbst, der „Kartätschenprinz“ von 1848, legte sich nun quer, weil der Titel „Deutscher Kaiser“ und nicht, wie er es wollte, „Kaiser von Deutschland“ lauten sollte. Außerdem fürchtete Wilhelm L, sein geliebtes Preußentum zu Grabe tragen zu müssen. Dabei hatte man die Kaiserproklamation absichtlich auf den 18. Januar festgesetzt, einen preußischen Gedenktag. An jenem Tag nahm anno domini 1701 Friedrich I. in Königs-

berg den Titel „König in Preußen“ an. Auch die Proklamation zum Kaiser im Versailler Prunkschloß verlief recht militärisch, die Uniform dominierte. Anton von Werner, der den historischen Moment im Bild festhalten sollte, wäre – als Zivilist und folglich „verdächtiges Subjekt“ – fast von der Feldgendarmerie festgenommen worden.

Bis zum letzten Moment hatte der König auf der von ihm gewünschten Kaiserformulierung bestanden und den Bundeskanzler Bismarck fast zur Verzweiflung getrieben. Der Kronprinz vermerkt denn auch in seinem Tagebuch, daß Bismarck „ganz grimmig verstimmt aussah“. Er habe „in tonloser, ja geschäftlicher Art und ohne jegliche Spur von Wärme oder feierlicher Stimmung die Ansprache 'an das deutsche Volk'“ verlesen.

Nun, das Volk war ohnehin nicht anwesend, nicht einmal parlamentarische Abgeordnete. Auch waren nicht Vertreter aller Teilstaaten präsent, so fehlten Repräsentanten von Braunschweig, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, beider preußischer Fürstentümer und Lippe-Detmold sowie der Stadtrepubliken Bremen, Hamburg und Lübeck.

Wie sehr sich auch die historischen Situationen unterscheiden, so drängen sich einem doch bei einem Vergleich von 1871 und den Ereignissen des vergangenen Jahres Parallelen auf: 1870/71 wurde keine neue Reichsverfassung geschaffen, sondern die des seit 1867 bestehenden Norddeutschen Bundes unwesentlich modifiziert, wobei die bestehenden Volksvertretungen so gut wie keine Rolle spiel-

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