nd-aktuell.de / 19.01.1991 / Politik / Seite 13

Jude oder Deutscher?

Der Antisemitismus lebt in deutschen Landen erneut auf und hat wieder einmal seine Schwierigkeiten zu begründen, wer eigentlich Jude ist bzw. was Juden sind (eine religiöse, nationale oder „rassische Gemeinschaft?). In einer Veranstaltung des Bundes der Antifaschisten, Berlin- Friedrichshain e. V., erklärte Dr. Rosner, von der Jüdischen Gemeinde Berlin: Eigentlich könne dies nur jeder Jude für sich selbst beantworten. Niemand könne jemandem zum Juden machen. Jude sei, wer sich selbst als solcher fühle und betrachte, sei er nun religiös oder nicht. Das entspricht meinen eigenen Lebenserfahrungen.

Als Kind wurde ich in meiner Heimat Deutschland als Jude ausgegrenzt, erniedrigt, verfolgt, entging schließlich der Vernichtung nur durch das „Abtauchen“ in die Illegalität. Dabei entstamme ich einer'ganz „normalen“, ganz durchschnittlichen „deutschen“, einer „christlichen“ Familie. Wenn es – wie ich in der Veranstaltung bildhaft sagte – keinen Hitler gegeben hätte, wäre ich wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, Jude zu sein. Für die „rassebewußten Arier“ war ich aufgrund eines jüdischen Vaters, den ich als uneheliches Kind kaum persönlich kannte, und meiner „rassisch“ halbjüdischen Mutter, Jude. Für viele Juden aber war ich kein Jude, da ich ja Christ war. Glaubensmäßig bin ich heute weder Jude noch Christ.

Wollte ich die eingangs von Dr. Rosner aufgeworfene Frage heute für mich beantworten, so würde ich meinen: Ich bin Deutscher, weil ich als solcher geboren wurde und aufgewachsen bin, weil ich in Deutschland lebe, weil die deutsche Sprache meine Muttersprache ist, weil meine Mentalität durch deutsches Milieu, deutsche Sitten, deutsche Lebensart bestimmt ist. Jude bin ich, weil man mich als Kind dazu „gemacht“ hat, weil meine tragischen Kindheitserlebnisse einen prägenden Einfluß auf mein Leben haben, weil ich mich mit jüdischen Menschen in einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden fühle und Antisemitismus – wie jeden Rassismus – nicht nur „allgem'ein“ als gegen Menschlichkeit, sondern auch als gegen mich persönlich gerichtet empfinde. Aus Erfahrung und Überzeugung bin ich Internationalist.

GUSTAV HERTZFELDT