nd-aktuell.de / 19.01.1991 / Politik / Seite 14

Kein Märchenerzähler am Brunnen vor dem Tore

447, denn die Folge 3 von „Schröder erzählt“ nehme ich nicht mehr.

Herr Schröder, während andere Schriftsteller, die sich „Erzähler“ nennen, mich eingeschlossen, ihre Stories schreiben, haben Sie noch nie eine geschrieben, sondern alle immer Irgendeinem wirklich erzählt. Insofern ähneln Sie in Ihrer Methode dem Dorferzähler vor zweihundert Jahren am Brunnen vor dem Tore.

Dann schon eher dem Märchenerzähler auf dem Djemaa el Fna in Marrakesch, dem Platz der rollenden Köpfe. Aber mal im Ernst, mit Märchenerzählern haben meine Geschichten rein gar nichts zu tun, sie handeln nämlich von echten Menschen, nicht von Kunstfiguren. Und vom globalen Dorf. Vielleicht haben Sie so herum gesehen wieder recht mit dem Dorf erzähler.

Mir hat jemand, den Sie als Zuhörer hatten, berichtet, wie Sie das machen: Sie haben nur ein paar Zettel vor sich liegen, auf denen der ungefähre Ablauf Ihrer Story skizziert ist, aber dann halten Sie sich

nicht an die Reihenfolge, sondern improvisieren.

Das sieht nur so aus, ich erzähle nicht einfach drauflos, sondern jede meiner Geschichten ist vorher mehrfach ausprobiert, vielen unterschiedlichen Zuhörern ohne Tonband erzählt, so wie wir alle Geschichten erzählen, beim Essen, in der Kneipe, im Spar-Laden. Wenn die Geschichte dann im Kopf fertig ist, brauche ich einen Zuhörer, der die Geduld aufbringt, sie sich anzuhören, ohne mich allzu oft zu unterbrechen, der aber so interessiert ist, daß mich seine Reaktionen zum Weitererzählen ermuntern. Dieser so entstandene Rohtext, Tonband läuft ja mit, wird dann abgeschrieben und durchläuft intensive Redaktionen: Umarbeitungen, Umstellungen, Arbeiten am Text.

Wenn Sie den erzählten Rohtext derart stark bearbeiten, wieso dann der Umweg über das Einem-Erzählen, wenn am Ende doch alles

wieder redigiert wird, warum also schreiben Sie Ihre Story nicht gleich auf Papier?

Weil ich bei einer mündlich erzählten Geschichte weniger stilistische Blockaden und literarische Skrupel habe, insgesamt also weniger Selbstzensur übe, und vergessen Sie nicht, ich erzähle über wirkliche Menschen, das wirkliche Leben unter voller Namensnennung von Personen und Institutionen. Ich überliste sozusagen meine Skrupel und Ängste.

Und nun biete ich mich Ihnen als Zuhörer für die Sonntagsgeschichte an.

Da wird leider nichts draus, ich habe mir jetzt nämlich meinen kleinen exklusiven Markt aufgebaut mit meiner neuen Reihe „Schröder erzählt“, der zu einem Drittel ein Sammlermarkt ist, das möchte ich nicht inflationieren mit „Schröder erzählt“ hier und „Schröder erzählt“ da. Im Moment habe ich 448 Abonnenten.

Bedauerlich, ja, es kommt vor, daß einige abspringen, die natürliche Fluktuation. Aber für jeden, der abspringt, bisher war es jedenfalls so, kommt ein neuer Subskribent hinzu.

Fünfzig Mark für eine Folge ist mir einfach zu teuer.

Der Preis ist angemessen. Ich kann nicht einsehen, weshalb ein Schriftsteller nicht soviel verdienen sollte wie ein Handwerksmeister, nämlich 43,- DM pro Stunde. So lange bin ich durchschnittlich, alle Arbeiten zusammengenommen, mit einem Exemplar beschäftigt.

Herr Schröder, ich will eine Originalstory von Ihnen.

Was in „Schröder erzählt“ drinsteht, ist original genug, finde ich. 448 Leser gibt es bisher bloß, die happy few.

Jörg Schröder, geboren 1938 in

Berlin-Niederschönhausen, arbeitete nach einer Karriere als Buchhändler und Werbefachmann als Pressechef und Werbeleiter im Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln, wurde 1965 Verlagsleiter un Cheflektor im Avantgarde- und Judaica-Verlag Joseph Melze in Darmstadt und gründete 1969 den März Verlag in Frankfurt/M. für radikale Politik und Kunst sowie die deutsche Filiale der Olympia Press, des berühmt-berüchtigten anglo-französischen Verlages für literarische Pornographie.

Sein erstes Erzählwerk „Siegfried“ (1972) wurde gleich nach Erscheinen mit zahlreichen Verleumdungsklagen überzogen und ist auch heute nur mit dreißig geschwärzten Zeilen erhältlich. Eine Neuauflage erschien soeben im Verlag am Galgenberg in Hamburg.

Die heute abgedruckte „Sonntagsgeschichte“ ist einem der authentischen Berichte aus der Prosareihe „Schröder erzählt“ ent-

nommen.