Orchestrale Seelenlandschaften

Henzes 10. Sinfonie unter Simon Rattle in Berlin erstaufgeführt

  • Liesel Markowski
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
Seine Sinfonia N. 10 hat Hans Werner Henze in den Jahren 1997 bis 2000 komponiert, ein faszinierendes Klangpoem von starker Ausstrahlung. Im Vergleich zur vorangegangenen »Neunten«, die, auf Anna Seghers Roman »Das Siebte Kreuz« fußend, den »Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus« gewidmet ist und »mit einer willkürlichen, unberechenbaren, uns überfallenden Welt« abrechnet, ist die »Zehnte« eher ein subjektives Psychogramm. Henze, der politisch denkende und engagierte Komponist, bleibt unverkennbar auch in dieser Musik: In ihrer gestischen Identität scheinen Gefährdungen des Einzelnen in unserer bedrohlichen Gegenwart auf. Henze hatte bei der Komposition Simon Rattle »als ... Luzifer ... mit einem reineleganten englischen Köpfchen, mit feinsinnigen Händen und dem Sensorium eines in die Welt verliebten Modernen« im Sinn. Im virtuosen orchestralen Anspruch, im sensiblen Spektrum der Farben der »Zehnten« mag sich derlei Inspiration niedergeschlagen haben. Rattle hat die Sinfonia N. 10 im August 2000 mit dem Birmingham Symphonie Orchestra uraufgeführt, jetzt stellte er sie als Chef des Philharmonischen Orchesters in Berlin vor. Es war ein großer sinfonischer Abend. Die Philharmonie bis unters Dach vollbesetzt mit einem Publikum, das konzentriert ganz bei der Sache war. Die Interpretation des etwa vierzigminütigen Zyklus fesselte vom ersten bis zum letzten Takt: Artikulation, Dynamik, Klangkultur vom Feinsten in allen Registern des Orchesters. Zum Erlebnis wurde ein klingendes, farbig üppiges Panorama, aus Dunklem ins Helle führend. Die brisant geschärfte, geräuschhafte Gestik des Anfangssatzes - als »Ein Sturm« bezeichnet - mit aggressiv schnarrendem Blech zu äußerster Vitalität gesteigert, verheißt sich aufbäumenden Widerstand. Lyrische Besänftigung verströmt der folgende »Hymnus« im Espressivo vielfach geteilter Streicher und in zartem Piano. Wenn darauf der »Tanz« anhebt, scheinen alle Schleusen eines musikantischen Spiels geöffnet: Eine glitzernde Parade der Klänge und Rhythmen wird von den virtuosen Percussionisten, von Harfe und Klavier, von skurrilem Blech hinreißend vital vorgeführt. Den letzten Satz nannte Henze »Ein(en) Traum«: Aus fahlem Dunkel der tiefen Holzbläser erwächst eine lichte, bis ins Helle ausgreifende bewegende Streicher-Kantilene. Für den Komponisten eine »Klanglichkeit, die ganz weit entfernt ist von den Schrecken und Kümmernissen der Zeit, in der wir leben und sterben müssen und zu der einem wie mir nichts anderes mehr einfällt als die Ablehnung, die Abwendung, die Absage, der Abgesang, der Abschied«. Vision nach rückwärts? Das Publ...

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