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Solothurn und Bagdad

Auf den Spuren des Schweizer Films

  • Heinz Kersten
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Welt ist kein Schwarz-Weiß-Film, und ihre Probleme lösen sich nicht nach dem Muster eines Western«, gab Bundesrat Moritz Leuenberger bei Eröffnung der 38. Soluthurner Filmtage zu bedenken und nahm eindeutig Stellung: »Wenn es um Krieg geht, gibt es keine Teilnahmslosigkeit, sondern es gibt nur eine Antwort! Nein!« Bezugspunkt war der Dokumentarfilm des seit langem in der Schweiz lebenden Irakers Samir »Forget Baghdad«. Vier kommunistische Intellektuelle kommen darin zu Wort, die wie 120000 andere Juden in den 40er und 50er Jahren unter politischem Druck aus Irak nach Israel emigriert und nun hier im Spannungsfeld zweier Kulturen leben. Es war nicht der einzige politisch aktuelle Beitrag unter der Rekordzahl von 260 eidgenössischen Produktionen des vergangenen Jahres. »Brothers and Others: The Impact of 9/11 on Muslims and Arabs in America« von Nicolas Rossier fragte nach den Folgen der Terrorhysterie für Tausende verhafteter langjähriger US-Bürger, die ihre Existenz verloren und deren Angehörige teilweise aus Geldnot das Land verließen, das sie als zweite Heimat immer noch lieben. Ein gerade in seiner Nüchternheit besonders erschütterndes Zeugnis aus »Gods own country« lieferten Rolf Lyssy (»Schweizermacher«) und Dominique Rub mit ihrem Film »Schreiben gegen den Tod«. Eine welterfahrene Schweizerin korrespondiert seit 1987 mit Gefangenen, die jahrelang in Isolationshaft in amerikanischen Todeszellen sitzen. Für sie sind die Briefe und zwei Besuche der Schreiberin pro Jahr einzige Verbindung zu einer imaginären Welt. Steven, der im Film vorgestellte Adressat, wartet seit zehn Jahren in einem texanischen Zuchthaus auf Vollstreckung eines unhaltbaren Todesurteils. Sein Tagesablauf in einer 5,5 Qudratmeterzelle: 3 Uhr Wecken und Frühstück, 10 Uhr Fast-Food-Mittagessen, 15 Uhr Abendessen, keine Arbeit. Ein Anwalt für 200000 Dollar könnte ihn wohl rausbringen, aber keiner der Todeskandidaten hat Geld. 120 Gnadengesuche lehnte George W. Bush als Gouverneur von Texas ab und rühmte sich noch, jeweils nur fünf Minuten für die Lektüre gebraucht zu haben. Bei mehreren Hinrichtungen war er selbst zugegen, verspottete dabei auch noch eine Christin. »Das System macht sich lustig über menschliches Mitgefühl«, sagte Stevens junger engagierter Pflichtanwalt, der seinen Mandanten nie sehen und sprechen konnte. Die Blicke von Schweizer Dokumentaristen über den engen Horizont des eigenen Landes hinaus haben Tradition. Sie filmten in Kabul und Bosnien und beschäftigten sich auch wieder kritisch mit helvetischer Vergangenheit. Entsprechende Themen hatte man allerdings schon besser gesehen: über Schweizer im spanischen Bürgerkrieg, die nach ihrer Rückkehr Repressalien ausgesetzt waren, und die Asylpolitik im Zweiten Weltkrieg, die viele jüdische Flüchtlinge zurück und in den Tod schickte, so wie in der zweistündigen Fernsehdokumentation »Mémoires de la frontière« an der Genfer Kantonsgrenze zu Frankreich. In der folgenden Friedenszeit fand manch Ausländer leichter Aufnahme. Einige gehören heute zur Schweizer Filmszene, zum Beispiel Miklòs Gimes. Seine Dokumentation »Mutter« zählte zu den stärksten Eindrücken in Solothurn: das Porträt einer imponierenden Frau, die als Jüdin den ungarischen Faschismus überlebte, sich danach für den Kommunismus engagierte, bis sie mit ihrem sechsjährigen Sohn nach dem Aufstand 1956 aus Budapest in die Schweiz flüchtete. Ihr Mann, der Vater des Filmemachers, wird 1958 als »Konterrevolutionär« hingerichtet. Es entsteht der gerade durch die Einbeziehung der Privatsphäre bewegende Rückblick auf eine Generation, die zwar in ihren Idealen enttäuscht, aber nicht müde wurde, für eine bessere Welt zu kämpfen. Neben viel Weltläufigem gab es diesmal auch sehr bodenständig Schwyzerisches: über den Nationalsport des »Schwingens« (Ringens), Alphörner und eine aussterbende bäuerliche Welt. Erich Langjahrs schon in Leipzig mit einer Goldenen Taube ausgezeichnete »Hirtenreise ins dritte Jahrtausend« wurde bei der Vergabe der Schweizer Filmpreise als bester Dokumentarfilm prämiert. Als besten Spielfilm hob die Jury »On dirait le Sud« von Vincent Pluss hervor, einen »Doegmeli«-Film, den das Team in der Echtzeit eines Wochenendes ohne vorgegebene Dialoge mit drehte: der turbulente Besuch eines Mannes bei seiner von ihm getrennt lebenden Frau und den beiden Kindern. Im Gegensatz zum Dokumentarfilmboom spiegelte Solothurn wieder die Krise des Schweizer Spielfilms. Während Dokumentarfilme auch im Kino reüssieren, bildet bei den Spielfilmen der Erfolg der perfekten Politkomödie »Ernstfall in Havanna« von Sabine Boss mit 320000 Besuchern die große Ausnahme. Alle übrigen Schweizer Spielfilme erreichten 2002 nicht einmal ein Zehntel dieser Zuschauerzahl. Ihr Marktanteil beträgt gerade drei Prozent. Einen Besucheranstieg um 15 Prozent auf fast 40000 registrierte man in Solothurn. Doch die vollen Säle repräsentieren nicht den Kinoalltag. Der winkte schon während der Filmtage um die Ecke von deren traditionellstem Spielort, dem Landhaus, mit dem Angebot: »Lassen Sie sich jeden Abend von unseren sieben charmanten Miss Schweiz Finalistinnen an der Hollywood-Bar verwöhnen. Erleben Sie mit uns Hollywood hautnah.«
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