Kein Kongreß über Radreifen

Neue Phase bei der Aufklärung der Eisenbahn-Katastrophe vom Eschede

In eine neue Phase trat jetzt der laufende Prozess um die Eisenbahnkatastrophe von Eschede am 3. Juni 1998, bei der 101 Menschen den Tod fanden und weitere 105 schwer verletzt wurden.

In Celle hatte seit August 2002 die 1.Große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg eine Vielzahl von Zeugen und Geschädigten vernommen und sich von drei Sachverständigen aus Aachen und Braunschweig die Spuren des Unfall-ICE sowie die Vorgänge bei der Eisenbahn erläutern lassen. Nun zog man ins Landgericht Hannover, weil dort mehr Platz ist für die Verhandlung an wöchentlich zwei Tagen. Vorn am Richtertisch sitzen fünf Richter, eine Ersatz-Richterin und zwei Ersatz-Schöffen, eine Protokollantin sowie linker Hand zwei Staatsanwälte. Am langen Tisch rechts nehmen die drei Angeklagten, Ingenieure des früheren Bundesbahn-Zentralamtes Minden und ein Ingenieur des Herstellers des katastrophenverursachenden Radsatzes Platz. Dazwischen sechs Anwälte mit ihren Laptops, die sie mit CD-Rom füttern, um sich das Blättern in über 120 Ordnern zu sparen.
In der Mitte sitzen an drei quer gestellten Tischen 13 Sachverständige aus drei Kontinenten. So viele haben sich vermutlich noch nie zuvor in einem deutschen Gerichtssaal auf einmal versammelt, lässt uns der Gerichtssprecher wissen. Simultan-Dolmetscher überwinden die Sprachbarrieren. In den Wochen bis Ende März möchte das Gericht Aufschlüsse über die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft haben: Ist der gummigefederte Radreifen im ICE »Wilhelm Conrad Röntgen« wegen Ermüdung des Materials geborsten? War es erlaubt, diesen bis auf 862Millimeter Dicke abzufahren oder waren allenfalls 880Millimeter gestattet? Hätten die Radreifen nie in Hochgeschwindigkeitszügen, um deren Brummen und Dröhnen zu vermeiden, verwendet dürfen? Hat es keine oder nur unzureichende Festlegungen für das Überprüfen der Radsätze in den Werkstätten gegeben?

Gehässige Angriffe im Gerichtssaal

Die Anwälte der schweigenden Angeklagten und die hinter ihnen stehende Deutsche Bahn sind anderer Meinung, die von Sachverständigen aus Japan, Südafrika, Schweden und Deutschland erhärten werden soll. Für sie war der Radreifenriss ein nicht vorherzusehendes Zusammentreffen misslicher Umstände. Die entsprechenden Gutachten der Verteidigung waren von den drei von der Staatsanwaltschaft aufgebotenen Sachverständigen des Fraunhofer-Instituts - Fischer, Flade und Grubisic - gelesen worden. Sie kamen ihrerseits zu dem Ergebnis, die Schlüsse der Gegenseite seien grundsätzlich falsch und beruhten auf Missinterpretationen der Messergebnisse und Fehlinterpretationen der Grundlagen.
Die Prozess-Dramaturgie lässt die Sachverständigen nicht nacheinander aufmarschieren, sondern holt den »geballten Sachverstand« gleichzeitig zusammen. So kann jeder der 13Männer hören, was der andere sagt, und durch Fragen seine Zweifel an der Richtigkeit ausdrücken. Der Vorsitzende Richter Michael Dölp versuchte durch einen Appell zu Beginn der neuen Prozessphase den - wie es sich Tage später zeigt - zum Teil gehässigen Angriffen zuvorzukommen. Er forderte Sachverständige und Verteidiger auf, die »sachliche Basis« zu wahren, schließlich seien die Sachverständigen »Gehilfen des Gerichts«. Sie sollten verständlich reden und Fachausdrücke meiden. Man sei nicht auf einem »Kongress über Radreifenlehre«.
Wie zu erwarten, fand die Verteidigung genügend Munition, um die Glaubwürdigkeit der Sachverständigen des Fraunhofer-Instituts zu erschüttern. Diese verhielten sich auch recht ungeschickt, meinten vielleicht, außer ihnen und ihren Kollegen könne kaum jemand im Saal dem dritten Semester der Mechanik folgen. Das war auch nicht nötig. Rechtsanwalt Otmar Kury machte Flade bereits mit der Frage verlegen, was ein Mega-Pascal bedeute. Der Wissenschaftler konnte erst nach einer Pause die Mengeneinheit erklären. Fischer und Flade erläuterten zunächst die Methodik, verhaspelten sich aber, als sie darlegen sollten, woher die Zahlen stammten. Verteidiger Dr. Graf: »1695 Kilometer Mess-Strecke schreiben Sie im Gutachten.« - »Wo gibt's denn solch eine lange Test-Strecke?« Schmunzeln und Gelächter unter den Kollegen. Fischers Antwort: »Das ist keine Mess-Strecke, gemessen wird im normalen Bahnnetz.« Er hatte aber von einer Mess-Strecke gesprochen.
Überzeugend wirkte das nicht. Die Sachverständigen waren schlecht beraten - so sie es überhaupt waren -, auf die bohrenden »Verständnisfragen« der Anwälte gereizt und trotzig zu reagieren. Als Flade begründen sollte, wie er zu unterschiedlichen Ergebnissen in seinen Berechnungen kam, antwortete er: »Das weiß ich nicht.« Sogleich beantragte Kury, diese Antwort zu protokollieren, sicher in der Absicht, später den Sachverständigen wegen mangelnder Sachkenntnis abzulehnen und das Gutachten als verfehlt zu bezeichnen. Der Zuschauer mag denken, dass die Anklage auf tönernen Füßen steht. Oder sind die Fragen und Anträge der Anwälte, die das Gericht immer wieder zu Beratungspausen zwingen, nur Schau für den Auftraggeber?

Diskrete Regie seitens der Deutschen Bahn

Die Deutsche Bahn hat zwei Juristen zum Prozess geschickt, die von der Zuschauerbank aus diskret Regie führen. Sie wollen doch sehen, wie die staatsanwaltlichen Vorwürfe entkräftet werden. Wer aber genau hinhört, meint, das Gericht könne sehr wohl unterscheiden, ob einer seiner »Gehilfen« ungeeignet oder nur konfus ist. Kurys Antrag wies jedenfalls die Kammer zurück. Sie sah den Satz des Sachverständigen als aus dem Zusammenhang gerissen an. Der habe damit nur seine zeitliche Unkenntnis zeigen und nicht sagen wollen, er könne den Unterschied überhaupt nicht erklären. So war es auch. Am folgenden Tag - Flade hatte sein Rech...

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