Mathias Wedel - Sieg!

Und zwar auf der ganzen Linie. Der Traum der deutschen Sozialisten, den sie seit 1878 träumten, wird wahr. Das haben sie dem mildtätigen Wirken der PDS zu verdanken. In sozusagen revolutionärer Kleinarbeit hat sie seit 1990 ihre durchschlagende Ungefährlichkeit bewiesen. Sie gilt heute als Freizeitverbund netter, bescheidener, etwas melancholisch gestimmter Leute mit folkloristischem Einschlag. Man streichelt sie gern und steckt ihnen Früchte der Saison zu. Nun kann die Partei-Avantgarde im Karl-Liebknecht-Haus die Fenster aufreißen und in die linden Lüfte hinausrufen: Proletarier aller Bundes-Länder - endlich können wir sagen, was wir wollen, es interessiert nämlich keinen mehr - nicht einmal mehr den Verfassungsschutz! Viele der besten Kämpfer haben für dieses Ziel unsägliche Strapazen, Beschimpfungen und sogar Spott auf sich genommen. Doch »trotz alledem!« (Liebknecht) sind sie immer wieder aus Straßenbahnen und Flugzeugen gekrabbelt und haben der verdutzten Bevölkerung zugerufen: Ich bin in der Bundesrepublik angekommen! Zunehmend waren sie sogar ausgesprochen gern angekommen, küssten Zollbeamte, Litfasssäulen und vorbeischlurfende Kabinettsmitglieder. Besonders komisch sah das aus, wenn diese Libidoschübe unvermittelt in dramatische Selbstkasteiungen übergingen. Da rissen sich die besten Kämpfer die Dreiteiler auf und beklagten ihre kollektive Mitschuld an Honeckers Trotzanfällen, an repressiven Massenschluckimpfungen und am ostzonalen Kinderfernsehen. Danach boten sie jedesmal hellsichtigen theoretischen Schriften der SPD an, sich von ihr zwangsvereinigen zu lassen, freilich unter der Bedingung, dass die anrührende Weise »Die Heimat hat sich schön gemacht und Tau blitzt ihr im Haar« zur neuen gemeinsamen Parteihymne werden würde. Natürlich kriegten die Sozialisten auch die knechtende Herrschaft des Kapitals zu spüren, sogar mit Wucht. Die Kneipe im Parteihaus ging mehrmals Pleite, weil die Wirte zu hohe ideologische Erwartungen in die solidarische Trinkfreudigkeit der Berliner Arbeiterschaft gesetzt hatten (heute ist an der Ecke ein OstPro-Vertrieb, passt auch irgendwie). Ansonsten aber sahen unsere besten Kämpfer auf Bürgermeister-, Staatssekretärs- und Ministerstühlen gerührt, dass das Vaterland unter ihrer tätigen Mitwirkung an jedem neuen Tag unterm Verfassungsbogen immer noch ein bisschen dynamischer, flexibler und gutriechender wurde. Und sie ärgerten sich schon lange darüber, dass sie vom Verfassungsschutz dafür nie die »Verdienstmedaille der BRD« bekamen, sondern in Talkshows sogar manchmal Häme ernteten - geschweige, dass sie selber moderieren durften. Hätte der Bundespräsident nicht wenigstens den charismatischen Berliner Arbeiterführer aus dem Plattenbau, Stefan Liebich, von seinen Genossen auch gern »langer Lassalle« genannt, mit einer Freundschaftsreise auf die Krim auszeichnen können? Warum darf Gregor Gysi nicht bei »Deutschland sucht den Superstar« starten und warum wurde Roland Claus nie »Krawattenmann des Jahres«? Es bleibt noch viel zu tun! Jetzt, wo der Verfassungsschutz die Beobachtung der KPF einstellt, wird es noch stiller werden um die PDS. Selbst jener geheimnisvolle Herr, der regelmäßig Agitationsschriften abholte, wird nun nicht mehr kommen. Und irgendwann werden sich die Genossen fragen: Jetzt sind wir nun schon so ungefährlich geworden - warum traut s...

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