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  • Mit wehrpflichtverachtenden Grüßen aus dem Zug zur Bundeswehr gestiegen

Gericht mißt Rekruten nach zweierlei Maß

  • RAINER FUNKE
  • Lesedauer: 3 Min.

Ist die Henne mein, so gehören mir die Eier, auch wenn Nachbars verschriener Gockel im Spiele war. Oder ins neue Militär-Deutsch gebracht: Die Bundeswehr hat die NVA einverleibt, ergo sind deren Wehrpflichtige die ihren. Und zwar ohne neuerliche Musterung. Obwohl in der jeweiligen Kommission die sonst als rechtswidrig gescholtene Staatssicherheit ein entscheidendes Wort zu sagen hatte. So beschlossen und verkündet vom Berliner Verwaltungsgericht in der Streitsache zwischen einem Wehrpflichtigen aus dem Prenzlauer Berg und der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Leiter der Wehrbereichsverwaltung VII, Strausberg. Begründung: „Es versteht sich von selbst, daß die Staatssicherheit bei Fragen der Wehrpflicht nicht ohne Bedeutung war.“

Merke also: Wer bei der NVA als tauglich gemustert wurde, ist es weiterhin auch für die Bundeswehr und muß, wie in diesen Tagen, mit seiner Einberufung rechnen. Selbst einen Anspruch auf eine nachträgliche ärztliche Untersuchung wird einem nur gestattet, wenn die letzte

Musterung mehr als zwei Jahre zurückliegt. Auch interessiert das Verwaltungsgericht nicht, daß es sich im vorliegenden Falle um eine Musterung in Ost-Berlin handelte, was – wie oft wurde es in den letzten Jahren von westlicher Seite angemahnt – gegen alliiertes Recht verstieß. Da auch die Tauglichkeitskriterien in NVA und Bundeswehr nicht unbedingt die gleichen waren, fand das Gericht auch hier eine, wenn auch ein wenig naiv anmutende Begründung von verblüffender Rechtslogik: Es verstünde sich von selbst, daß die Musterungskommission in der DDR die Entscheidungspraxis in der BRD nicht berücksichtigen konnte.

Hier wird ein Recht mit dem anderen gedeutet. Ein einmaliger Vorgang. Offensichtlich, so der Westberliner Rechtsanwalt Kajo Frings dazu, stellt man das Interesse der Bundeswehr an einer reibungslosen Einberufung von jungen Leuten des Beitrittsgebietes über die Verteidigung ihrer individuellen Rechte. Denn laut genanntem Beschluß ist „der Rechtsfriede und die Rechtssicherheit von zentraler Bedeutung“, derentwillen

„auch eine unrichtige Entscheidung in Kauf genommen werden“ muß.

Das seltsame Urteil paßt nahtlos zu dem Szenario auf dem Berliner Hauptbahnhof vom Dienstag. Wehrunwillige versuchten, die Abfahrt von Rekruten in ihre Ausbildungskompanien zu verhindern. Und zwar mit objektiven Informationen über rechtsstaatliche Möglichkeiten, den Kriegsdienst zu verweigern, womit die jungen Leute nach aller Erfahrung in den Kreiswehrersatzämtern und der Wehrbereichsverwaltung kaum rechnen können. Wen wundert's, denn wessen Brot man ißt... Kaum einer der Rekruten, so Beteiligte, war sich seiner rechtlichen Möglichkeiten bewußt. Keiner, der für die neue Wehr auch neu gemustert worden wäre. Siehe oben. Und der Staat weiß wieder einmal nur eine Antwort auf schwindendes Wehrbewußtsein seiner Bürger – Kriminalisierung, massiver Polizeieinsatz gegen eine zunächst friedlich verlaufende Aktion von Andersdenkenden. Wie gehabt.

Im Juli sollen neuerlich junge Leute aus dem Osten zum Bund ge-

zogen werden. Für die Wehrunwilligen, deren Zahl in hiesigen Landen ständig größer wird, gilt der Rat, sich rechtzeitig in den Büros der Totalverweigerer sachkundig zu machen. Anwalt Frings: „Den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung sollte man jetzt stellen, noch ehe der Einberufungsbescheid kommt.“ Und wenn der aber schon eingetroffen ist, Widerspruch sofort – innerhalb von 14 Tagen – anmelden. Und am Besten das Papier persönlich zum Kreiswehrersatzamt bringen, denn nicht der Poststempel gilt. Wichtig ist auch, so der Anwalt, sofort alle Argumente auf den Tisch zu legen. Beispielsweise kann man zurückgestellt oder überhaupt nicht eingezogen werden, wenn Arbeitslosigkeit die Familie drückt oder die eigene Umschulung bevorsteht.

Und im übrigen: Die unermüdlichen Verweigerungsaktionen – oftmals ganz weniger – zeitigen auf Dauer auch im Osten Erfolg. Am Dienstag stiegen auf dem Berliner Hauptbahnhof drei Rekruten mit wehrpflichtverachtenden Grü-ßen an die Bundeswehr wieder aus dem Zug.

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