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  • Kultur
  • Sinnloser Rausch und triebhafte Liebe: Federico Garcia Lorcas „Bluthochzeit“ im Roma-Theater „Pralipe“

Und man hört nichts als nur die Klage!

  • Lesedauer: 4 Min.

Und man sieht nichts als nur die Klage – auf diesen Brettern, die just wie nie die Welt bedeuten. Ein Mord ist geschehen, zwei Morde eigentlich. Zwei Männer, Machos, haben sich in sinnlosem Blutrausch, triebhaft, leidenschaftlich, aus Liebe, Besitzgier, Anspruch, getötet. Drei Frauen – Mutter des einen, die Frauen beider – sitzen im Szenenrund, ratlos, eine einzige stumme Frage: Warum? Eine einzige stumme Klage: Wieso? Lorcas „Bluthochzeit“ – gespielt vom Roma-Theater „Pralipe“, was soviel heißt wie „Bruderschaft“.

Rahim Burhan inszenierte am Theater an der Ruhr in einem szenischen Raum von Vladimir Georgievski. Aufgeführt wird das Stück des Spaniers aus dem Jahre 1933 in Romanes, der aus dem Sanskrit stammenden und über verschiedene Stufen weiterentwickelten Sprache der Roma, die man landläufig Zigeuner nennt.

Die Roma-Darsteller spielten, als ob der Spanier Lorca ihr ureigenster Klassiker wäre: spanisch-kastilianisch, und doch war da etwas anderes. Man könnte es auch das

Balkanische nennen. Immerhin kommen die Darsteller aus Jugoslawien, genauer aus Skopje in Mazedonien. Es ist wie bei allen vertriebenen Völkern, die unter Gastoder Wirtsvölkern, mal im Ghetto, mal schon im Zugzwang der Assimilation leben: Sie haben auch angenommen.

Außerdem ist da überaus Eigenes – Nationales – der Roma: ihr Temperament, ihre Sensibilität, ihre Bewegungskultur, die schier unvergleichliche Musikalität. Das haben sie gehalten, meistens amateurisch, auf Familienbasis. Inzwischen gibt es auch Professionalität, , mancher junge Roma studiert. Doch immer noch sind das Minoritäten, noch immer ist die Diskriminierung groß. Gehören sie doch neben Juden und Armeniern zu den meistverfolgten Menschengruppen dieses Erdballs.

Zahlreiche Überlebende und Nachfahren leben nun in Ungarn und Jugoslawien, teilweise ghettoisiert. Sie werden sich allmählich ihrer kulturellen Identität bewußt. Eine wichtige Rolle dabei spielt etwa seit 1950 der Kulturverein „Pralipe“. Seit etwa 1970 arbeitet

das gleichnamige Theater, geleitet von Rahim Burhan (Regie) und Sami Osman (Schauspieler, im zur Rede stehenden Stück der Bräutigam). 18 Produktionen zähle ich, die ersten waren indes eher Zusam-r menstellungen von Gedichten und andern Texten.

Ein erster internationaler Erfolg kam mit „Soske“ („Warum“, 1977). Weithin bekannt wurden sie mit Produktionen wie „Oedipus Rex“ (1983), „Tauben und Menschen“ (nach Irfan Beljur, 1984), „1917“ (nach Brecht, 1985), „Die Orestie“ (1988), „Marat/Sade“ (Weiss, 1988), auch Shakespeares „Richard III.“ gehört dazu. Ko-Produktionen gab es mit dem Nationaltheater Subotica (Ljubiäa Ristic), dem Belgrader Studentenkulturzentrum oder dem Stadttheater in Budva. Inzwischen besteht eine Zusammenarbeit mit dem Theater an der Ruhr unter Roberto Ciulli, das eine kommende künstlerische Heimat des Pralipe sein wird. Darüber kann man sich freuen, hier begegnen sich ähnliche ästhetisch-politische Gesinnungen und künstlerische Praktiken.

Mit „Bluthochzeit wird die Truppe auf große Tournee gehen. Viele Zuschauer kann man nur wünschen. Hier geht Theater ans Innerste, läßt keinen gleichgültig.

In einem mattgolden schimmernden Raum stehen sich die zwei männlichen Gegner (Sami und Nedjo Osman) mit ihren Hähnen gegenüber, zwischen ihnen die Darstellerin der Braut (Elizabeta Kocovska) mit einem Huhn. Das ist das Symbol des Vorgangs, der so tödlich endet. Denn die Braut war schon früher einmal mit Leonardo verlobt (die Mutter erfährt es erst jetzt); dieser ist mit einer andern verheiratet, mit der er ein Kind hat; doch geht er wieder zur ersten, die Liebe kommt erneut. Mit ihr die Katastrophe.

Mond und Tod spielen mit, Orangen als Symbole der Liebe (gereicht wie sonst der Apfel, ausgepreßt wie Körper in Leidenschaft, die sich nichts verweigern), ein rotes Band zeigt Aneinander-Gekettet-Sein. Alles ist genau arrangiert, ja choreografiert, mit, weniger aus dem Körper dargestellt. Der tödliche

Kampf ist eine Pantomime des Todes.

Diese Spieler bewegen sich anmutig, leicht, schön. Ihr Spiel zeugt von hoher Intelligenz, gleichsam auch natur- und lebensverbunden. Welch ein Widersinn in jenen Vorurteilen der Theoretiker der „reinen Rasse“. Ob die je so gehen konnten!

Unendlich musikalisch. Dabei nun doch ein kleiner Einwand: Auch sie sind einer irren Technik verfallen. So laut, an der Schmerzgrenze, mußte ihre Musik (dramaturgisch erstklassig eingesetzt, von Bizets Habanera bis zur eigenen Folklore reichend) nicht über die Lautsprecher gedröhnt werden!

Welch ein Finale: zwei tote Männer liegen, ein Tuch wird über sie gebreitet. Im Hintergrund der weit aufgerissenen Bühne erscheint „Die Gekreuzigte“ – drei Frauen sitzen im Szenenrund, ratlos, mit der stummen Frage: Warurn? Der Vorgang ist zum Zeichen geworden. „Man hört nichts als nur die Klage.“ (Lorca)

JOCHANAN CH. TRILSE-FINKELSTEIN

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