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  • Die Hochschul-Autonomie ist unteilbar

Zurück in's Mittelalter?

  • Lesedauer: 3 Min.

Freiheit - das war's, wofür im Herbst 1989 in Leipzig, Berlin, Dresden, Magdeburg und andersr wo in der damaligen DDR Menschen auf die Straße gingen. Und tatsächlich, aller Skepsis vieler Linker zum Trotz, das Verschwinden der DDR unter den Fittichen des Bundesadlers hat mit dem Grundgesetz einige verbriefte Rechte und Freiheiten gebracht, die vordem fehlten. Nicht wenige Freiheiten hatten sich die DDR-Bürger jedoch zuvor selbst erkämpft. Dazu zählt die Freiheit der Wissenschaft, die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre. Die nach der sogenannten Wende entstandenen Hochschulstatuten und -Satzungen bieten vieles, was in Westdeutschland in 20 Jahren nicht erreicht wurde. Mitbestimmungsgremien, in denen nicht mehr (wie zu DDR-Zeiten) der Staat selbstherrlich entscheidet, wer Professor wird, wo aber auch die antiquierte Alleinherrschaft der Professoren überwunden war.

'?Döefitterzeit Werden nicht allein diese besonderen 1 “ ?ostdeutschen Rechte attackiert, sondern auch die im Grundgesetz verbriefte Freiheit von Kunst und Wissenschaft. In den Verfassungen der meisten europäischen Länder ist sie verankert, in Frankreich schon seit 1849. Nach dem seither vorherrschenden europäischen Rechtsverständnis stellt jeder direkte oder indirekte Eingriff in die autonomen Ent-' scheidungs,strukturen an den Hochschulen die verfassungsmäßige Freiheit der Wissenschaft in Frage.

Obwohl das bis dato auch verbindliche Norm in der alten BRD war, will Berlins Wissenschaftssenator Erhardt per Gesetz selbst die Personalhoheit der Ost-Hochschulen für einen längeren Zeitraum übernehmen. Sämtliche DDR-Professoren werden gefeuert, eine vom Senator eingesetzte und beherrschte Kommission wird über Neubesetzung der Lehrstühle sowie die Neustrukturierung der Hochschulen bestimmen. Wenn die Hochschulautonomie in der Vergangenheit auch im Westen zuweilen umgangen wurde, lief das meist über

die finanzielle Austrocknung unliebsamer Fachgebiete. Der Schein der Unabhängigkeit wurde gewahrt. Doch in Ostdeutschland geschieht nicht einmal das. Hier reißt der Staat alle Wissenschaftsfragen einfach ungefragt an sich. Zustände, die nach Auskunft des ehemaligen Generaldirektors für die Universitäten im französischen Bildungsministerium, Prof. Guy Ou^risson (Universität Strasbourg), trotz Überzentralisation in Frankreich absolut undenkbar wären.

Eine Gruppe von westeuropäischen Wissenschaftlern, die gleichzeitig Abgeordnete des Europaparlaments sind, sieht in dem Berliner Ergänzungsgesetz und den ostdeutschen Hochschulerneuerungsgesetzen einen Präzedenzfall für die Gefährdung der Freiheit der Wissenschaft in ganz Europa. Sicher zu Recht. Deshalb gründeten sie gemeinsam mit anderen am Wochenende eine internationale Vereinigung zur Verteidigung der Unabhängigkeit und der Freiheit in Loire 'Und Forschung^äh 'Hochschulen und Universitäten; ^- v -^

Der Schriftsteller Stefan Heym, der aus seinem sehr „zwiespältigen Verhältnis“ zur staatstreuen Humboldt-Universität kein Hehl macht, sieht in den derzeitigen Staatsaktionen gegen Ex-DDR-Hochschulen Prinzipien in Frage gestellt, für die Leute wie er gegen die alte SED-Führung kämpften. Mit derartigen Eingriffen gehe man zurück ins Mittelalter. Ob und welche Wissenschaftler gehen müssen, das sei von den Kollegen und den Studenten zu entscheiden, nicht aber vom Staat. Wer dem Staat derartige Rechte einräumt, darf sich nicht wundern, wenn an den Hochschulen wieder Verhältnisse einziehen, wie zu alten DDR-Zeiten.

Eines haben die Auseinandersetzungen der letzten Monate um die ostdeutsche Wissenschaft auf jeden Fall verdeutlicht: Es lohnt, sich zu wehren. Die Richtersprüche von Karlsruhe gegen die Warteschleife ebenso wie von Berlin gegen Teilabwicklungen an der Humboldt-Uni belegen, man kann sich auch gegen diesen Staat durchsetzen.

Dr. STEFFEN SCHMIDT

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