nd-aktuell.de / 18.07.1991 / Kommentare / Seite 2

Das tägliche Brot und die Inflation

ROSIBLASCHKE

Sie klang wie Musik in den Ohren so vieler, die Kanzlerverheißung: Niemandem wird es schlechter gehen als bisher. Im Gegenteil. Inzwischen ist das große Wort' nur noch gut für die Satire. Trotzdem läßt der Kanzler gelassen weiter schöne und große Worte ab. Zum Beispiel kürzlich bei seinem Oberlausitz-Besuch: „Wir machen das schon!“ In unseren Sprachschatz aber gehen unterdessen neue Begriffe ein, die wir so schnell nicht vergessen werden: Inflation, Preisauftrieb, Sozialhilfe. Die jüngsten Zahlen aus dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden weisen aus: Im Mai 1991 mußten die Arbeitnehmerhaushalte in Ostdeutschland 14,6 Prozent mehr für ihren Lebensunterhalt ausgeben als im Mai 1990. Zum Vergleich - in Westdeutschland stiegen die Lebenshaltungskosten um drei Prozent. Das meiste war für Energie (noch ohne Kraftstoffe) hinzublättern, die Preise stiegen hier um 156 Prozent. Über die Hälfte mehr mußten für Gesundheit und Körperpflege und gut ein Fünftel mehr für Nahrungsmittel bezahlt werden. Dagegen wurden Schuhe, Kleidung, Möbel und Haushaltgeräte bis zu einem Fünftel billiger. Dies alles entsprach der Berechnung nach dem alten Warenkorb. Nach neuen, dem verän-

derten Warenangebot und Kaufverhalten der Ostdeutschen angepaßten Ermittlungsmethoden, gingen die Preise von Juni 1990 bis April 1991 sogar um 24,8 Prozent nach oben.

Der unaufhaltsame Anstieg ist programmiert. Im August, so rechnen die Experten, wird die vier-Prozent-Marke überschritten. Nahrungsmittel und Mieten liegen im Teuerungstrend vorn. Da wissen wir, was auf uns zukommt. Den Oktober mit seinen vier- bis fünffach höheren Mieten erwartet ohnehin jeder mit Schrecken. Natürlich, die heute billige Büchse Ananas war früher zehn- bis zwölf mal so teuer. Bei Exquisit und Delikat kassierte der Staat kräftig ab. Auch die billigen Lebens-Mittel kamen uns letzten Endes teuer zu stehen. Aber ist die Ananasbüchse zum Pfennigpreis heute ein gerechter Ausgleich?

Wenn nur gegenwärtig im gleichen Maße wie die Preise die Einkommen stiegen. Doch sie pendeln nach wie vor zwischen 35 und 65 Prozent der Westentgelte. Das durchschnittliche verfügbare Einkommen ostdeutscher Haushalte beträgt nur wenig mehr als die Hälfte dessen westdeutscher Haushalte, besagt eine Untersuchung

des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Und die Abstände werden ! sich weiter erhöhen. 16 Prozent der Hauhalte müssen mit weniger als 1 000 Mark im Monat auskommen. Besonders schlimm' trifft es viele Ältere, die trotz steigender Renten zum Leben zuwenig und zum Sterben zuviel haben. Oder die nahezu vier Millionen Arbeitslosen, Kurzarbeiter und in Vorruhestand Geschickten.

Sie alle, die von Arbeitslosengeld oder anderen Notgroschen leben müssen, haben Mühe, mit ihrem Einkommen auszukommen. Heute veröffentlichen wir Fakten aus einer Studie des DGB, wonach die Armut in den neuen Ländern drastisch ansteigt. Schon drei Monate nach der Währungsunion wurden fast 65 000 Sozialhilfeempfänger registriert. Aus „Scham oder Unwissenheit“, machen in den alten Bundesländern fast die Hälfte der Berechtigten ihre Ansprüche auf Sozialhilfe nicht geltend. In den neuen dürfte dieser Anteil noch höher sein. Wie war das doch mit der absoluten und relativen Verelendung, von der Marx sprach? Ein zu großes oder eher verdammtes Wort in dieser Zeit?

Daß die Situation in den ostdeutschen Ländern sich weiter zuspit-

zen wird, geht aus mindestens zwei Tatsachen hervor. Zum einen aus dem weiteren Abbau von Arbeitsplätzen. Allein in Industriebetrieben werden laut Münchner Info-Institut bis zum Jahresende 700 000 Frauen und Männer entlassen. Den größten Aderlaß haben die Textil- und Bekleidungsindustrie und die Metallindustrie zu verkraften. Bis 1995 blickend, haben Wirtschaftsexperten vorausgesagt, daß dann in den neuen Ländern noch sieben Millionen Arbeitsplätze bestehen werden. Keiner der betroffenen Wirtschaftszweige wird das frühere Beschäftigungsniveau wieder erreichen. Zum Zweiten: Immer massiver wird der Druck der Unternehmer auf Löhne und Gehälter und die Forderung, sie der Produktivität anzupassen. Das müsse künftig „höchste Priorität“ haben. Die Gewerkschaften gehen massiv dagegen an und fordern die Angleichung an Westniveau bis 1994.

Übrigens: Für das tägliche Brot im wahrsten Sinne des Wortes müssen wir Gesamtdeutschen in diesem Jahr 5 Prozent mehr bezahlen als die Westdeutschen im Vorjahr, für die Brötchen sogar 8 Prozent mehr.