nd-aktuell.de / 19.07.1991 / Kultur / Seite 6

Blaue Briefe vor dem Jawort

Peter Berge

So übel schienen die Zukunftsaussichten für die Volksbühne am Berliner Luxemburgplatz eigentlich nicht. Laut Theaterkonzept des Senats, das im April dieses Jahres an den hauptstädtischen Bühnen für Aufregung sorgte, erhielt die Ostberliner Spielstätte den Bonus für die Zukunft als Bewährungsort für eine „junge avantgardistische Truppe“, während ihr Pendant im Westteil, die Freie Volksbühne, nur noch Ort für Gastspiele sein sollte.

Aber wer geglaubt hatte, hier sei ausnahmsweise mal, oh Wunder, eine Ostberliner Institution vom Schicksal und vom Senat begünstigt worden, der wurde nun eines anderen belehrt. 22 Kündigungen für künstlerische Mitarbeiter des Ensembles brachten der Öffentlichkeit schlagartig wieder ins Bewußtsein, daß nichts so gewiß ist in der zu vereinigenden Berliner Kulturszene wie die Ungewißheit. Auf Druck des Senats wurde im Blitzverfahren ein langjährig gewachsenes Ensemble demontiert, noch ehe ein neues formiert werden konnte. Das neue kann nicht gebildet werden, weil der künftige Theaterchef Frank Castorf erst übers Jahr, in der Spielzeit 92/93, zur Verfügung steht. Für den Übergang - der durchaus auch den Untergang bedeuten könnte -, soll nun eine provisorische Leiterin den bisherigen provisorischen Leiter ablösen, der ein letztes Mal seines provisorischen Amtes walten mußte mit einer Amtshandlung, vor der er sich lange und letztlich nun vergeblich gesträubt hatte: als Briefträger des Senats.

Bei den Adressaten der blauen Briefe handelt es sich überwiegend um künstlerische Mitarbeiter, die das Profil der Volksbühne in jahrzehntelangem Bemühn um anspruchsvolles realistisches Volks-

theater mitgeprägt hatten. Mit wechselndem künstlerischen Erfolg, gewiß, aber zugleich auch mit allerhand Publikumszuspruch.

Nun müssen Persönlichkeiten wie das Regie-Duo Hering/Straßburger, der Bühnenbildner Jochen Finke, die Schauspieler Helmut Straßburger, Ezard Haußmann und andere den Hut nehmen: wenige Tage vor Inkrafttreten des für den 1. August ausgehandelten neuen Kündigungsschutzes übrigens. Der bisherige des alten Rahmenkollektiwertrages endete - gewollte Tücke? - am 1. Juli. Ein Rausschmiß also, der rechtlich zumindest fragwürdig ist. Und moralisch wird er auch dadurch nicht besser, daß sich der Kultursenator laut „Tagesspiegel“ auf den Willen des Wunschkandidaten Castorf berufen kann, der sein Jawort nur dann zu geben bereit sei, wenn „die Übergabe in besenreinem Zustand“ erfolgt. Was wohl auf einen Neubeginn ohne sozialpolitische wie auch konzeptionelle und stilistische „Altlasten“ zielt.

Auf unverbauter grüner Wiese gleichsam soll Castorf seine bunten avantgardistischen Drachen steigen lassen. Wobei man vergißt, daß sich Castorfs Produktionen in die traditionelle Landschaft Berliner Theaterrepertoires zu DDR-Zeiten recht gut einfügten: Das gediegene Umfeld machte seine provokanten Geniestreiche auffällig und steigerte ihre Wirkung. Von Zeit zu Zeit sah man den Castorf gern. Er war ein Muß für den aufgeklärten Zuschauer, solange der ihn nicht immerzu und ausschließlich sehen mußte. Wenn Avantgardistisches zur einseitigen Pflichtkost wird, kann sie irgendwann auf den Magen schlagen, es sei denn, die Volksbühne entschließt sich, ihr Stammpublikum gegen eine touri-

stische Laufkundschaft einzutauschen. Was ihrer kulturhistorischen Bestimmung entschieden widerspräche.

Fest steht: Mit einem traditionell gewachsenen Ensemble wickelt man auch dessen Publikum ab. Castorf schreckt das vermutlich nicht. Er hat ja seine Fan-Gemeinde. Nun sind Fans gewöhnlich sehr treu, aber sehr zahlreich sind sie gewöhnlich nicht. Mit Freunden von Experimentalstücken und avantgardistischen Klassikerinszenierungen füllt man vielleicht Vorund Hinterbühne, Keller, Foyer und 3. Stock, den großen Saal füllt man wohl kaum mit ihnen.

Was nicht gegen Castorf und seine Kunst spricht. Avantgarde ist das Gegenteil von Massenkunst, der Avantgardist weiß das, und stellt es in Rechnung; zumal dann, wenn er zum avantgardistischen Theaterleiter avancieren möchte. Da denkt er, wenn er klug ist, vorsorglich auch an die sicheren Bänke im Repertoire, die ihm das große Haus bis zur letzten Bank füllen könnten. Denn: daß ein Theater mit einem rein avantgardistischen Spielplan rentabel und reich würde, wäre neu in der Theatergeschichte. Aber offenbar will Castorf, ohne Netz und doppelten Boden in der besenreinen Volksbühne, Theatergeschichte machen.

Viele halten eine Pleite für wahrscheinlicher. Reich und rentabel nämlich soll die Volksbühne unter Castorfs Leitung laut Theaterpapier, dem er seine Nominierung verdankt, in halsbrecherisch kurzer Zeit werden. Zwei Jahre nur! So steht's geschrieben in der Schrift vom April. Wenn's die junge Truppe in dieser knappen Zeit nicht packt, mag das Theater zum Teufel gehen.

Castorf immerhin, ein Trost gewiß, bliebe uns als Regisseur erhalten. Aber Berlin wäre um ein Theater ärmer. Den Schaden hätte das Publikum, das Gemeinwesen. Nur einer hätte, nach angemessener Trauer, Grund zur Freunde: der Kultursenator. Ihm wäre das leidige Problem zweier Volksbühnen in einem Berlin vom Halse, ohne daß ihm jemand was beweisen könnt'. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt. Etwa: daß der Regisseur Castorf möglicherweise nur eine Rolle zu spielen hat im Trauerspiel um das Komödienhaus am Luxemburgplatz. Und: daß der Senat hier der clevere Regisseur ist, planvoll und mit kühlem Kalkül.

PETER BERGER