- Wirtschaft und Umwelt
- Kurzarbeit - Arbeitslosigkeit - Beschäftigungsgesellschaft - und was folgt danach?
Die Frankfurter Ubergangsgesellschaft
Der Betriebsrat ist jetzt ein Boss. Manfred Köhler, Betriebsrat im Halbleiterwerk Frankfurt (Oder), ist seit kurzem einer der beiden Geschäftsführer der Beschäftigungs-, Qualifizierungs- und Strukturförderungsgesellschaft mbH in der Stadt an der polnischen Grenze. Die „Personalunion“ zwischen Belegschaftsvertreter und Jung-Unternehmer weist auf die Initiatoren der Gesellschaft hin: die Betriebsräte des Halbleiterwerkes.
Im Betriebsrat entstand Ende vergangenen Jahres zunächst die Idee eines Vereins für Arbeitsförderung. Denn schnell verflogen war im Halbleiterwerk der Glaube an die Versprechen der Geschäftsführung vom Juli 1990. Niemand der rund 7 400 Halbleiterwerker werde entlassen, hieß es damals, als die Chefs für das Unternehmen Kurzarbeit anordneten. Die damals mit West-Hilfe erstellten Überlebenskonzepte waren schon Makulatur, bevor sie sich bis zur Belegschaft herumgesprochen hatten.
Im Januar 1991 wurde der gemeinnützige Verein für Arbeitsförderung gegründet, um Arbeitsbe-
schaffungsmaßnahmen für die Halbleiterwerker vom Konzept bis zur Trägerschaft zu organisieren. Chef: Manfred Köhler, der dem Verein bereits einigen Erfolg zuschreibt. Nun ist der im Januar gegründete Verein mit 40 Prozent, mit 20 000 Mark, am Grundkapital der Beschäftigungsgesellschaft beteiligt. Die wurde am 17. Juni notariell beglaubigt, an jenem Tag, als sich in der Berliner Treuhand-Zentrale die Chefs der Treuhand, der Gewerkschaften, Vertreter der Arbeitgeber und ostdeutschen Länder nach langem Tauziehen endlich auf eine Rahmenvereinbarung zur Bildung von Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung einigten. Da hatte für die Frankfurter Gesellschaft bereits Olaf Sund, Staatssekretär im brandenburgischen Arbeitsministerium die 5 000 Mark aus eigener Tasche bezahlt, die eigentlich von der Treuhand kommen sollten. Weitere 5 000 Mark schließlich schoß eine Frankfurter Stahlleichtbau-Firma ins Geschäft. Die durfte, denn sie ist, seit ihrer Privatisierung über
ein Management-buy-out, kein Treuhandbetrieb mehr. Das Treuhand-Unternehmen Halbleiterwerk stellt lediglich Räume zur Verfügung. Für 14,50 Mark Miete je Quadratmeter.
Im Juni noch mochte angesichts der starren Haltung der Treuhand nicht einmal ein Sterndeuter auf die Gründung der Beschäftigungsgesellschaft wetten. Und der Rückenwind durch die Belegschaft für die Initiatoren war eher lau. Keine zweihundert zogen Ende Juni vor die örtliche Treuhandniederlassung, um ihre Beschäftigungsgesellschaft durchzusetzen. In jener Woche bekamen die zum 30. Juni im Halbleiterwerk Gekündigten im Kleinen Speisesaal des Werks im Frankfurter Ortsteil Markendorf ihre Papiere. Die waren alphabetisch in fünf Karteikästen geordnet, es konnte zügig gehen.
Über 600 ehemalige Halbleiterwerker wie auch andere Interessenten aus der Oderstadt haben sich bei der Beschäftigungsgesellschaft um ABM-Stellen beworben.
Ab September soll die neue Gesellschaft in Gang gekommen sein. Gegenwärtig werden noch Möbel gerückt, aus ABM-Kräften ein arbeitsfähiger Mitarbeiterstab aufgebaut. Zunächst geht es der Gesellschaft darum, die ehemaligen Null-Kurzarbeiter des Halbleiterwerks aufzufangen, die noch nicht in Umschulung oder Weiterbildung untergebracht wurden. Seit dem gestrigen Donnerstag sollen sie ihren Arbeitsvertrag erhalten. Als Null-Kurzarbeiter. Bis zum 31. Oktober. Solange bezahlt die Treuhand noch jene Kurzarbeiterkosten, die das Arbeitsamt nicht trägt. Nach Schätzung von Manfred Köhler könnten 1 000 Kurzarbeiter zusammenkommen.
Die Beschäftigungsgesellschaft ist eine Übergangsgesellschaft. Der Kurzarbeit soll die Vermittlung in Qualifizierungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen folgen. Köhler will die Kurzarbeiter bei der Wahl von Qualifizierungsprogrammen beraten. Bildungsangebote sollen durch-die Beschäftigungsgesellschaft auf Seriosität
geprüft werden - eine Art Bildungs-TÜV.
Eine Abteilung der Beschäftigungsgesellschaft wird neue Möglichkeiten für ABM erkunden. Zudem will Köhler, vor allem für die zahlreichen Ingenieure aus dem Halbleiterwerk und dem Institut für Halbleiterphysik, eine Art Innovationszentrum schaffen. Vom Arbeitsamt finanziert und als Ausgangspunkt für Existenzgründungen.
Das geschrumpfte Halbleiterwerk, so hofft die Geschäftsführung des Unternehmens, soll - inzwischen mit drei weiteren ehemals zum Kombinat Mikroelektronik gehörenden Betrieben zusammengeschlossen - ab 1993 wieder schwarze Zahlen schreiben. Das Vertrauen der Belegschaft in das jetzige Konzept indes ist gering. Und Köhler ist überzeugt: Seine neue Firma wird bald mehr Leute haben als die alte. Für eine Übergangszeit, von der noch niemand recht weiß, wohin sie der Übergang ist.
MICHAEL BAUFELD
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