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  • Politik
  • Wende in der indischen Wirtschaftspolitik, Fragezeichen in den Beziehungen zur Sowjetunion

Die ersten hundert Tage der Regierung Rao

Aus Delhi berichtet HENRI RUDOLPH

  • Lesedauer: 4 Min.

Vor dem riesigen Oval des indischen Parlamentsgebäudes läuft der Verkehr wieder auf Hochtouren. Seit dem vergangenen Wochenende keine Absperrungen und Umleitungen mehr. Die Polizei hat das Feld geräumt. Es gibt niemanden mehr zu bewachen. Der Abschluß der Monsunsession fiel zusammen mit den ersten 100 Tagen Amtszeit der Kongreßpartei-Regierung unter Premier Narasimha Rao. Alles in allem hat sich der Ministerpräsident wohl besser etabliert, als die Zweifler und Pessimisten es vorausgesagt hatten. Das befürchtete und von Raos Gegnern herbeigeredete Drunter und Drüber nach dem Ende der Nehru-Gandhi-Dynastie trat nicht ein. Das brachte die Pessimisten zunächst zum Verstummen.

Zwei Themen machten Schlagzeilen. Erstens die neue Wirtschaftspolitik von Finanzminister Dr. Manmohan Singh, der am Rande des ökonomischen Abgrunds eine Wende einleitete und vor allem mit Hilfe des Auslandskapitals Indiens Industrie den nötigen Schwung verleihen will. Wie überall unter kapitalistischen Bedingungen entspricht ein solches Konzept nicht unbedingt den Interessen der Bevölkerungsmehrheit.

Seine Schattenseiten zeichnen sich besonders scharf in einem Entwicklungsland ab, in dem niemand von „sozialer Marktwirtschaft“ spricht und wo nur eine Schicht Privilegierter „sozial abgefedert“ wird.

Zweitens führte Rao einen neuen Umgangston mit der Opposition ein. Während in der Vergangenheit die Kongreßpartei immer recht hatte und dieses auch auf Biegen und Brechen durchdrückte, setzt Rao auf Einvernehmen. Viele brisante Fragen diskutierte er vor den Parlamentsdebatten mit den Oppositionsführern, erläuterte seine Position und hörte sich verständnisvoll die Gegenargumente an. Diese Form der Entscheidungsfindung, so die ; ,Times of India“, entspringe Raos Überzeugung und nicht etwa der Schwäche seiner Minderheitsregierung.

Nach wie vor ungelöst allerdings die verschiedenen nationalen Konflikte. In Assam mußte sogar die Armee ausrücken. Dort versuchte die Vereinigte Befreiungsfront (ULFA), die gewählte Regierung zu Fall zu bringen und einen Staat nach eigenen Vorstellungen zu etablieren. Ein ähnliches Ziel verfolgen die Moslemrebellen in Kaschmir und die Sikh-Extremisten in

Punjab, deren Anschlägen Tag für Tag unzählige Menschen zum Opfer fallen. Punjab beklagt allein in diesem Jahr über 1 800 Tote. Die Zentralregierung hat ihre direkte Verwaltung dieses Unionsstaates gerade erst um weitere sechs Monate verlängert.

Die terroristischen Aktivitäten in diesen Gebieten haben seit dem Putschversuch in Moskau und der anschließenden beschleunigten Desintegration der UdSSR zugenommen. Offensichtlich erhoffen sich die Separatisten eine ähnliche Entwicklung für das indische Staatsgebilde. Gleichzeitig werden Stimmen laut, die ein neues Verhältnis zwischen der Zentralmacht in Delhi und den 25 Unionsstaaten verlangen. Unruhe schließlich auch im Süden Indiens. Die Jagd nach den Komplizen der Mörder Rajiv Gandhis brachte ans Licht, daß die srilankischen „Befreiungstiger“ (LTTE) ihre Schlupfwinkel auch in den Lagern srilankischer Flüchtlinge im Unionsstaat Tamil Nadu haben.

Auch wenn die Regierung nicht gern darüber redet, bereitet ihr ein weiteres Problem ziemliche Sorgen: die Beziehungen zur Sowjetunion. Seit 1971 verbindet beide Länder ein Vertrag über Frieden,

Freundschaft und Zusammenarbeit. Auf dessen Grundlage gibt es eine weitgefächerte Kooperation. Stichworte: Stahlwerke in Bokaro und Bhilai. Erdöllieferungen aus der UdSSR, die die Hälfte des indischen Bedarfs decken. Die Sowjetunion ist Indiens größter Handelspartner - alles auf der Basis von Zahlungen in Rupies, bei minimalen Zinsen, mit Laufzeiten bis zu 20 Jahren. Seinen Rüstungsbedarf deckt Indien zu fast 75 Prozent mit sowjetischen Lieferungen. Hinter all dem stehen jetzt Fragezeichen. *

Ebenso schmerzhaft empfindet Delhi, daß auf außenpolitischem Gebiet, zum Beispiel in der UNO, ein starker und verläßlicher Partner, der Moskau immer war, verloren geht. So wird verständlich, wenn Indiens Regierung immer wieder die Freundschaft zwischen beiden Staaten beschwört.

Es sind also nicht nur die internen, Indiens Einheit bedrohenden Prozesse und nicht nur die ökonomischen und “sozialen Fragen, denen sich der neue Premier gegenübersieht. Er hat ein Riesenpaket von Problemen vor sich, mit dessen Aufschnüren er in den vergangenen 100 Tagen gerade erst begonnen hat.

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