nd-aktuell.de / 25.09.1991 / Wissen / Seite 8

Späte Entscheidungen

Ich kann mich noch gut an das seltsame Gefühl erinnern, als ich zum ersten Mal im Realienbuch meiner Großmutter lesen durfte. Sie besaß nur das eine Schulbuch, hielt es in Ehren - wohl auch deshalb hat es heute einen Ehrenplatz in meinem «Bücherschrank. Meine eigenen Lehrbücher waren vor allem in den großen Sommerferien, so kurz vor Schulbeginn interessant. Da lockte schon mal das Neue, doch bis heute aufgehoben habe ich keine. Für meine Kinder wird die Frage des Aufbewahrens keine Rolle spielen, sie bekommen die Materialien sowieso nur „geborgt“. Trotzdem haben sie Glück, denn als Schüler einer Berliner Grundschule, durften sie bereits seit dem ersten Schultag mit ihren Büchern arbeiten. Für ihre Altersgefährten in Sachsen oder Thüringen begann die Schule

- wie schon des öfteren berichtet teilweise ohne Bücher.

Unsicherheit an den Schulen, neu zusammengewürfelte Lehrerund Schülergemeinschaften, schlechte materielle Voraussetzungen, fehlende Lehrmaterialien dieser Schuljahresstart dürfte wohl kaum als gelungen bezeichnet werden. Nun wird nach dem Schuldigen gesucht. Für die nicht rechtzeitig vorhandenen Bücher Ward der Buhmann schnell gefunden. Die Verlage konnten nicht liefern, sie haben also das entstandene Chaos zu verantworten. Doch auch die Schulbuchmacher reichen die Verantwortung weiter... die Kultusministerien warn's. Sie haben zu spät über die neue Struktur im Schulwesen ihrer Länder entschieden.

Der Verband der Schulbuchverlage, in dem sich 70 Verlage mit ca. 3000 Mitarbeitern, zusammengeschlossen haben, versuchte kürzlich ostdeutsche Journalisten über die wirklichen Ursachen des Büchermangels zu informieren. Eingangs die Versicherung: Das Buch-Chaos wird sich nicht wiederholen

- der Wettbewerb zwischen den über 70 Verlagen regelt auch das. Im ersten Halbjahr seien, so der Verbandsvorsitzende Wolfgang Dick, keine Bestellungen (in den alten Bundesländern geschieht dies

in der Regel im ersten Quartal) für die erforderliche Erstausstattung der rund zwei Millionen ostdeutschen Schüler erfolgt. Konnten auch nicht, denn Schul- bzw. Vorschaltgesetze wurden erst kurz vor den Parlamentsferien' beschlossen. Entsprechend spät lagen die Hinweise zur Lehrplangestaltung vor, die für die neuen Lehrerkollegien Grundlage der Auswahl und Bestellung der geeigneten Schulbücher sind.

Zwischen Ordern und Eintreffen der Bücher liegen in der Regel zwei bis vier Wochen, sagte Dick. Da es sich aber kein Verlag leisten kann, Bücher in großen Mengen und auf Verdacht zu produzieren, führten die spät, aber gehäuft eintreffenden Bestellungen, zu Auslieferungsproblemen.

Die Schulbuchverlage, eine sehr kleine und hoch spezialisierte Gruppe unter den etwa 4000 deutschen Verlagen, leben von der Vielfalt des bundesdeutschen Bildungswesens. Ihre Angebote richten sich an etwa 20 verschiedene Schularten mit mehr als 100 unterschiedlichen Klassenstufen. Und dies alles in 16 Ländern. Ländern, die alle ihre Kultushoheit weidlich ausnutzen und in denen jeder Bildungsminister versucht, seinen „pädagogischen Königsweg“ zu finden und durchzusetzen. Im schlechtesten Fall braucht jedes Land sein Mathebuch und zwar in jeder Klassenstufe. In politisch relevanten Fächern, so meinen die Verleger, mag dies vielleicht noch akzeptabel sein. Unbegreiflich erscheint ihnen aber der Fakt, daß es zwischen den Ländern keine Einigung darüber gibt, in welcher Rei--henfolge beispielsweise im Fach Physik die Themen Optik, Mechanik und Akkustik zu behandeln sind. Die vielen verschiedenen Ausgaben sind - wegen des hohen Aufwandes - dementsprechend teuer.

Mit relativ preiswerten Schulbüchern konnte sich übrigens der Ex-DDR Verlag Volk und Wissen einführen. Insider bescheinigen ihm einen guten Start in die Marktwirtschaft. MARTINA REICHE