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  • Kultur
  • Die documenta 9 lädt nächstes Jahr nach Kassel ein

.Museum der 100 Tage

  • Dr. MARION PIETRZOK
  • Lesedauer: 4 Min.

Die documenta in Kassel - man nennt sie die umfassendste Informationsschau der Kunstavantgarde, die Weltschau gleich nach der Biennale in Venedig (oder doch die wichtigste?). Seit 1955 alle vier bzw seit der „d 6“ alle fünf Jahre sieht sich das nordhessische Kassel als Wallfahrtsort von Künstlern, Kunstliebhabern, Kritikern, Wissenschaftlern, Studenten, ja, und natürlich auch von Menschen wie du und ich, die nur schauen wollen. Oder die gesehen werden wollen. Denn da ist was los. Ein Jahrmarkt, der der Region mit einem Schub finanziell kräftig das Herz massiert. Standortfaktor. Eine riesige Blase, die die Stadt fast erdrückte, aber über die Jahre hinweg ein „Nun gerade“ erzeugte. Der relativ lautlose Ost-West-Zusammenprall auf der politischen Ebene hat eine Arena geschaffen, die, wenn nicht im Künstlerischen, so doch schon mal geographisch abgezirkelt werden kann: Kassel liegt nach dem Fall der Grenzen so richtig in der Mitte,' nicht mehr exotisch am Rand des Eisernen Vorhangs. Was also liegt nahe: Nabel der Welt? Vielleicht.

Die anderen Künste nutzen die Gunst überreichlichen Besucherstroms und hängen sich mit aufsehenerheischenden Aktivitäten an die d-Lokomotive. Diesmal darf es eine Opernpremiere sein. Auch Jazz ist mit von der Partie. Und wem nicht klar ist, was Veranstaltungen wie Boxkämpfe mit Kunst zu tun haben, der darf den künstlerischen Leiter der '92er documenta, den Belgier Jan Hoet befragen: „Das Boxen selbst ist keine Show. Es ist ein streng geregeltes Ritual, bei dem die Spielregeln mit Chaos kombiniert sind. Ein Kampf, der Ordnung im Chaos schafft.“ Wahr-

lieh, eine schöne Metapher, und sopassen sie der „d9“ ins Bild.

Rund 70 Künstler, etwa die Hälfte der Gesamtteilnehmerzahl, sind zur documenta 9 bereits eingeladen, sind dabei, „vor Ort“ ihre Kunstwerke zu produzieren oder haben schon ihre Spur hinterlassen. Wie bei den früheren Ausstellungen kommen die meisten aus den USA, aus Deutschland und Italien. Auffallend viele der 76 „Metropolis“-Akteure darunter wie Jonathan Borofsky, Robert Gober, Bruce Naumann, Max Neuhaus, Cady Noland, Christopher Wool, Franz West, Jannis Kounellis. Natürlich gibt's auch schon Rekorde: Die Zahl der Künstler, die bisher noch nie an einer documenta beteiligt waren, ist diesmal größer als zuvor. Auch die der Künstler-innen und die der vertretenen Länder. Obwohl es allerdings nicht um Nationenrepräsentanz gehen soll, sondern um das herausragend Künstlerische, das sich ganz subjektiv präsentiert.

Subjektiv ist auch die Auswahl der Kunstwerke - durch Jan Hoet, der die gespannte Journalistenwelt schon zweimal zu einem documenta-Marathon lud (1990 in Gent und 1991 in Weimar). Einstimmig beklagten die Meinungsmacher denn auch, er habe kein Konzept, man könne nicht erkennen, welchen Darstellungsspielraum er den Künstlern gebe. Doch Lorbeeren braucht die „d“ im Vorfeld nicht, Hauptsache Publicity, egal wie. Schließlich scheint es seit Jahr und Tag Tradition zu sein, die „d“ in der Vorschau pessimistisch zu sehen, sie auch hernach kräftig herunterzuputzen („Kuriosa“, „Absurdes“, „Spielereien“, „platte Pointen“), zumindest die folgende immer schlechter als die vorange-

gangene zu finden und, klar, daß ihr Konzept nicht aufgegangen sei. Doch es werden mit jeder „d“ Fakten geschaffen: Namen, die sich dann besser vermarkten lassen, Trends zur Schau gestellt, denen man hinterher ihre Berechtigung nicht mehr abspricht.

Bis zur „d 6“ 1977 kamen Künstler aus der DDR dort nicht vor. Als Heisig, Mattheuer, Sitte, Tübke, Cremer und Jastram mit jeweils mehreren Arbeiten der Exotik Genüge getan hatten, kam eine Ahnung auf, daß es noch mehr, noch andere und qualitätvolle Kunst gab als jene, die - westliche - Avantgarde sein sollte. Mittlerweile beginnt außerhalb der Großveranstaltungen ein gegenseitiges Zurkenntnisnehmen. Ob es sich schon auf der „d 9“ niederschlagen wird? Bis jetzt war zu hören, daß Jan Hoet außer Volker Via Lewandowsky, der als einer aus dem Osten Deutschlands gilt, Künstler aus der ehemaligen DDR nicht für relevant, weil „künstlerisch zu opportunistisch“ hielt.

Man darf gespannt sein, welche Botschaft uns aus dem „Museum der 100 Tage“ - vom 13. Juni bis zum 20. September 1992 - im Museum Fridericianum, in der Neuen Galerie, im Ottoneum, im Pelzhaus Pfennig, im AOK-Gebäude, in der neuen documenta-Halle und in temporären Bauten in der Karlsaue - zuwehen wird. An der Bereitschaft, die „Sprache der Kunst zu hören“ soll es nicht mangeln.

Der normale Eintrittspreis wird übrigens 20 DM betragen, der Katalog (rund 1 300 Seiten in drei Bänden) wird so viel kosten, wie heutzutage die meisten bei großen Ausstellungen: nicht über hundert Mark, aber mehr als fünfzig, etwa 85 DM.

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