nd-aktuell.de / 13.02.1992 / Politik / Seite 5

Geldquelle für die Gewinnler, Beleidigung der Betroffenen

ben wird durch Begegnung mit anderen gefördert. Wir wollen deshalb verhindern, daß unsere Begegnungsstätten zu Inseln werden, zu neuen Formen der Ghettoisierung. Das Fundament unserer Projekte ist jene Öffnung, die ein klein wenig zur Erkenntnis beiträgt, daß eben in den sozialen Ungereimtheiten dieser Zeit Behinderte und Nichtbehinderte letztlich gleiche Probleme haben, ich deutete das bereits an. Der gesellschaftliche Trend, daß immer weniger Menschen für immer mehr Menschen arbeiten müssen, hat ja eindeutig inflationären Charakter. Selbst modernste Technologien sind kein Mittel gegen damit einhergehenden Sozialabbau. Und die Alten, die sozial Schwachen und eben die Behinderten fallen diesem absoluten Prinzip einer geradezu grassierenden „Marktfrische“ zuallererst zum Opfer.

Was kann ein Nichtbehinderter von einem Behinderten lernen?

Daß sich eine Existenz zu schaff fen, nicht identisch ist mit Leben! Daß man nicht leichtfertig umgehen sollte mit Freundschaft, mit Wärme, mit Geborgenheit. Es macht sich ja allenthalben Entsolidarisierung breit. Das Maß, in dem sich Menschen gegenwärtig in die Arbeit stürzen, so sie welche haben, raubt Kräfte, die notwendig wären, um sich, etwa nach der Arbeit, ein Umfeld der Kommunikation zu schaffen. Damit verlieren sich Kontakte und Zusammenge-

hörigkeitsgefühl; das Interesse am anderen Menschen läßt nach. Vielleicht haben wir Behinderte einen schärferen Blick für das, was wirklich wesentlich ist an diesem Zufall Leben, an seinen täglichen Abläufen. Wir freuen uns möglicherweise intensiver an den sogenannten kleinen Dingen des Daseins, die sich auf Dauer als so klein nicht erweisen.

Was ist eigentlich für Sie mit der Wende anders geworden?

Die materiell-technischen Möglichkeiten für Behinderte sind im Großen und Ganzen besser geworden, Chancen der Arbeitsplatz-Sicherung sind eindeutig schlechter. Was ist noch anders geworden? Auf jeden Fall weiß ich inzwischen, daß gegenseitige Hilfe und Solidarität in der DDR mehr waren als die Zwangstugenden einer Notgemeinschaft.

Der Verband organisiert Beratung...

Alle Bereiche des Lebens von der Rentenantragstellung, von Wohnanträgen und Rechtsberatungen bis hin zur Berufs- und Beschäftigungsfindung werden berührt. Auch Umfeld- und rehabilitationstechnische Beratung. Aber über die Beratung hinaus umfaßt unsere Projektarbeit u.a. Literaturtreffs, bei denen die Fähigkeit Behinderter zu eigener Kreativität offenbart, gefördert, präsentiert wird. Bildungsangebote regen berufliche Orientierung an, und immer steht im Vordergrund, daß Beschäfti-

gung für Behinderte niemals nur Broterwerb ist, sondern wesentliches Mittel der Selbstwertfindung.

Aber mehr Freizeitbeschäftigung ist letzteres ja doch, oder?

Wir wollen zur Qualifikation und Weiterbildung bzw. zur Umschulung motivieren. Dabei streben wir die Kooperation mit anderen Trägern an und sind bestrebt, sozial Schwachen den Zugang und den Zugriff zu Integrationsprogrammen zu erleichtern. Menschen mit Behinderungen müssen als gleichberechtigte Partner in die Lage versetzt werden, ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten einzusetzen und in einem Produktionsbereich als Arbeitnehmer zu wirken.

Wie werden Sie von der Stadt unterstützt?

Wir haben in mehreren Stadtbezirken Objekte, die unter anderem durch Finanzzuschüsse des Senats und der Stadtbezirke gestützt werden. Aber diese Mittel reichen nicht aus; die Suche nach Spenden und anderen wohlwollenden „Stützen“ ist permanent.

Worauf richten sich Ihre politischen Mühen?

Die rechtliche Durchsetzbarkeit bestimmter Dinge muß verbessert werden. In den Bauordnungen der Bundesländer ist zum Beispiel die Behindertenzugänglichkeit öffentlicher Gebäude festgelegt, ohne daß diese Vorschriften konsequent genug angewendet werden. Vorschriften für die Zugänglichkeit neuerrichteter Wohnungen fehlen

völlig. Behinderte sollten an der Bauplanung beteiligt, Behindertenorganisationen müßte Klagerecht eingeräumt werden. Fast schon eine Utopie. Auch für ein Anti-Diskriminierungs-Gesetz für Behinderte, wie es in den USA zum Beispiel seit 1990 existiert, setzen wir uns weiter ein. Mittlerweile hat sieh ein „Initiativkreis Gleichstellung Behinderter“ gebildet, dem viele Organisationen angehören. Gegenwärtig bereiten wir uns auf die Teilnahme am „Europaweiten Protesttag für die Gleichstellung und Anti-Diskriminierung Behinderter“ am 5. Mai vor.

Nun geht ja bei Menschen, die an den Rollstuhl gebunden sind, nichts ohne organisierte Mobilität.

Der Verband leiht auch Rollstühle aus. Aber damit ist Mobilität noch nicht gewährleistet. Erst der Schiebe- und Begleitdienst bewirkt ja, daß der Betroffene sein Ziel erreicht. Darüber hinaus haben wir begleitende Assistenz im Angebot unseres Verbandes, wie etwa Hausbesuche, Hilfe bei Einkauf, Hygiene und Haushalt, Unterstützung bei Arztbesuchen und auf Amtswegen. Wir haben auch in all unseren Zentren Koordinationsstellen für einen mobilen Hilfsdienst.

Meine Bemerkung zielte darüber hinaus auf Fahrzeuge, die den Transport von Menschen mit Behinderungen, etwa zu bestimmten Veranstaltungen, ermöglichen.

Das ist noch ein ganz schmerzlicher Punkt. Die öffentlichen Nah-

und Fernverkehrssysteme schlie-ßen Behinderte nach wie vor* aus. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR müssen Sonderfahrdienste erst aufgebaut werden. Derzeit fahren unsere Mitarbeiter mit ihren Privatfahrzeugen, aber kompliziert wird es eben beim Transport von Rollstuhlfahrern. Für viele ist das Umsetzen auf einen Autositz mit einer zusätzlichen, oft unzumutbaren Belastung verbunden.

Was ist mit dem Berliner Telebus?

Menschen mit Behinderung können ihn telefonisch anfordern. Das Netz ist auf Ostberlin ausgeweitet worden. Aber die dafür freigesetzten finanziellen Mittel decken in keiner Weise den Bedarf. Gemessen an der Gesamtzahl der Menschen, die nunmehr den Telebus benutzen möchten und müßten, kommen die zur Verfüghung stehenden Gelder einer Kürzung gleich.

Auch Sie gehören zu denen, die das Bonner Projekt der Pflegeversicherung heftigst attackieren.

Mit Recht! Die meisten Pflegebedürftigen sind bezüglich der Kosten für tägliche Hilfe und Pflege nach wie vor auf Sozialhilfe angewiesen. Es ist aber eine Absicherung nötig, die auch Pflegebedürftigen eine Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten ermöglicht. Es geht um bedarfsangemessene, einkommensunabhängige, steuerfinanzierte Leistungen bei Pflegebedürftigkeit. Wir wollen, daß Menschen, die für ihre alltägliche Lebensführung Hilfe brauchen,

in größerem Maße finanziell selbstbestimmt leben können, unabhängig von Familie oder Heim. Finanzen für ergänzende Pflege müssen also aus der Sozialhilfe herausgenommen werden. Ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz wird von der Regierung aber immer wieder abgelehnt, mit der Begründung, es sei nicht finänzierbar. Die Betroffenen selbst sollen bezahlen, der Staatshaushalt soll entlastet werden. Und wir Behinderten sollen auch noch ein schlechtes Gewissen haben, daß wir dem ach, so gebeutelten Staat derart drängend auf der Tasche liegen. Ein Abwälzen der Kosten auf die Versicherten, also die Schaffung einer neuen Geldquelle - das ist die schlichte Wahrheit der Pf lege Versicherung! Es wird verschleiert, daß die Regierung den Arbeitgebern nur noch höhere Gewinne zuschanzt.

Noch mal ein Wort zu Projekten und einem Ihrer Anfangsgedanken: sich zur Wehr setzen. Wie steht es eigentlich mit der Krause-Villa, ihren behindertengerechten Anlagen und deren, sagen wir mal: zweckentfremdeten Verwendung?

Wir lassen nicht locker, und wir rechnen zum entscheidenden Zeitpunkt wieder mit der Hilfe der Medien. Denn die Sache mit der Villa ist, wie man so schön amtsdeutsch sagt.^ein „laufender Vorgang“... Gespräch:

HANS-DIETER SCHUTT