Eine Chance

»Schrumpfende Städte« - ein globales Problem

  • Ronald Berg
  • Lesedauer: 4 Min.
Ruinen schaffen ohne Waffen - der Spruch, der einst bitter-ironisch Fehler in der Wohnungsbaupolitik der DDR kommentierte, ist auch heute traurig aktuell. Während im Osten Deutschlands bis zur Wende viele der innerstädtischen Altbauquartiere ihrem Abriss entgegendämmerten, ist man in vielen Städten der neuen Bundesländer dazu übergegangen, leer stehenden Plattenbauten abzureißen, so in Schwedt, in Wolfen, aber auch in Berlin-Marzahn. Aber Leerstand auch im Altbau: Leipzig 35 Prozent, Görlitz 48 Prozent und Stendal 42 Prozent. Grund: Mangelnde Nachfrage, denn die ostdeutschen Städte schrumpfen. Insgesamt eine Million Wohnungen, der Wohnraum für 2,1 Millionen Menschen, stehen leer. Das entspricht der Einwohnerzahl des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Seit der Wende haben sich auf dem Territorium der ehemaligen DDR dramatische strukturelle Veränderungen abgespielt: Das Land wurde - von einigen Ausnahmen abgesehen - praktisch deindustrialisiert.
Nur ein Beispiel für viele: Am Chemiestandort Halle-Merseburg-Bitterfeld, wo ehemals 117 000 Menschen Arbeit fanden, blieben 11 000 Jobs übrig. Folge: Gerade die jungen, arbeitsfähigen Menschen wandern den Arbeitsplätzen hinterher Richtung Westen. Zurück bleiben halb verlassene Städte, in denen immer weniger Kinder geboren werden, was den Schrumpfungsprozess noch beschleunigt. Wer noch Arbeit hat, und es sich leisten kann, zieht aus den Innenstädten und bezieht ein Häuschen im Grünen irgendwo am Stadtrand. Es gibt ostdeutsche Städten, die haben binnen einer Dekade die Hälfte ihrer Einwohner verloren, so etwa Wolfen; Leipzig schrumpfte um ein Sechstel, Weißenfels um ein Siebtel. Aber es wird noch schlimmer kommen, als wäre die Situation im Osten nicht schon heute alarmierend genug: Wenn nach 2010 die geburtenstarken Jahrgänge sich ihre Eigenheime außerhalb der Stadt bauen und die Zahl der Haushalte insgesamt durch die gesunkene Geburtenzahl nach der Wende weiter sinkt, ist mit dem Kollabieren von ganzen Städten zu rechnen, so befürchten es die Experten. Das von den Städten und Kommunen getragene Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) warnt, alle »bisher verfügbaren Planungsinstrumente sind auf Stadtwachstum, nicht auf Stadtschrumpfung ausgelegt«. Dazu kommt, dass die staatliche Förderung des Eigenheimbaus den Trend zur Stadtflucht noch forciert. Das Difu empfiehlt bereits über »wirtschaftliche Sonderzonen« und »perforierten Städte« und die »Potentiale der Leere« nachzudenken.
Es mag ein schwacher Trost sein, dass das Phänomen der schrumpfenden Städte ein globales Problem darstellt. Kyong Park etwa, Künstler und Architekt aus Detroit, vergleicht die Entwicklung in seiner Heimatstadt in den letzten 50 Jahre mit dem Abwurf einer riesigen Bombe auf die Mitte der Stadt. Im Ergebnis käme beides ungefähr auf das gleich heraus: Heute wächst in Detroits Mitte Gras. Wo einst Leben pulste, gleich neben dem Hauptbahnhof, findet man heute Brachland.
Kyong Park gehört als Kurator zum Kulturforschungsprojekt »Schrumpfende Städte«, das sich Ende Februar in Berlin der Öffentlichkeit vorstellte und das weltweite Problem des Verfalls der Städte untersuchen soll. Unter der Leitung des Berliner Architekten und Publizisten Philipp Oswalt wird ein internationales und interdisziplinären Team in den kommenden drei Jahren versuchen, Antworten auf folgende Fragen zu liefern: Wie leben die Menschen ohne Stadt und ohne Arbeit? Welche Rolle spielen Selbstorganisation und informelle Ökonomie? Was ist mit Angst, Verlust und Erinnerung? Welche kulturellen Praktiken bilden sich neu? Und: Lässt sich im Ungeplanten gar eine Utopie entdecken?
2004 in Berlin und ein Jahr später in Leipzig werden die Ergebnisse in Ausstellungen vorgestellt. Initiiert wurde das 3,2 Millionen teure Projekt von der 2002 gegründeten Kulturstiftung des Bundes. Die Wahl für die urbanistische Fragestellung mag damit zusammenhängen, dass Hortensia Völkers als künstlerische Direktorin der Stiftung die angesprochenen Problem in Halle sozusagen direkt vor der Nase liegen. Völkers wollte mit dem Auftrag an Philipp Oswalt aber vor allen die kulturellen Aspekte des Themas »Schrumpfende Städte« berücksichtigt wissen.
Die wechselseitige Beeinflussung von Kultur und Stadtentwicklung spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Projektteams wider. Neben Oswalt gehören Barbara Steiner von der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig dazu, die sich als institutioneller Kooperationspartner ebenso beteiligt wie Nikolaus Kuhnert als Herausgeber der links-kritische Architekturzeitschrift Arch+ und Walter Prigge von der Stiftung Bauhaus Dessau. Als weitere Kuratoren fungieren der erwähnte Kyong Park, der russischer Architekt Alexander Sverdlov, mit Wohnsitz in Rotterdam, und Dave Haslam, DJ und Musikproduzent, Rundfunkmoderator und Veranstalter verschiedener Kulturprojekte in seiner Heimatstadt Manchester.
Manchester/Liverpool, Detroit, die russische Industriestadt Iwanowo und Halle/ Leipzig sind zugleich die exemplarischen Standorte, die das Projekt genauer unter die Lupe nehmen wird. Als Abschluss der Unternehmung sind außerdem acht architektonische Maßnahmen geplant, die in Ostdeutschland realisiert werden sollen. Sie werden den Schrumpfungsprozess der Städte nicht aufhalten können, aber vielleicht an dessen dialektische Kehrseite erinnern: Jeder Verlust ist zugleich Chance zu etwas Neuem.
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