Wales - Karriere ohne Kohle

Vermisst werden die alten Zeiten nicht, doch weiß man um die Kümmernisse der neuen

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: ca. 7.5 Min.

Der 1. Mai ist dieses Jahr für viele Briten Wahltag. In Schottland und Wales etwa werden die Regionalparlamente gewählt. Unser Autor erlebte Wales - das Fürstentum im Westen - im Umbruch. Die Zeiten sind passé, da die weltgrößten Kohle-Häfen zwischen Cardiff und Swansea lagen. Wales baut an einer Karriere ohne Kohle - gelassen und ehrgeizig, unsicher und neugierig.


Der Flughafen »Cardiff International« ist überschaubar. Wales ist familiär. Der Bus draußen vor der Tür, der es in 40 Minuten ins Zentrum der Hauptstadt schafft, lässt auf sich warten. Wenigstens regnet es nicht. Dies die erste Überraschung. Sieben Tage später, wieder auf dem Flughafen, hatte es immer noch keinen Tropfen gegeben. Vielmehr schien die Sonne schön wie nie über dem Land der drei Millionen Waliser. Im April. Spätestens da war nicht mehr zu bestreiten: Wales verändert sich.
Mit gut 20 000 Quadratkilometern ist der Landesteil nur ein bisschen größer als Thüringen, nicht mal ein Zehntel Britanniens ausmachend. Gemessen daran ist die Region, die zum so genannten Keltischen Saum von Schottland über Irland, Cornwall bis in die Bretagne gehört, abwechslungsreich: Der Süden und Westen voller Kontraste - mit den Bergen des Brecon Beacons Nationalparks, den einstigen Industrie- und Kohletälern im Hinterland von Cardiff , den Klippen und Sandstränden des Pembrokeshire Küstennationalparks im Südwesten. In Südwales leben fast zwei Drittel der Bevölkerung. Hier befinden sich auch die größten Städte: die Hauptstadt (323 000 Einwohner) und Swansea (301 500).
Das dünn besiedelte Mittelwales (keine halbe Million Menschen) ist sanft hügelig, mit abgelegenen Hochplateaus, einsamen Bergstraßen und kühlen Wäldern, stillen Seen und weiten Meeresbuchten. Nordwales (660 000 Bewohner) ist geprägt von rauer, zerklüfteter Bergwelt mit dem Snowdon (1085 Meter) als höchstem Berg von England und Wales, und von einer Bevölkerung, in der der Anteil derer, die Walisisch als Erstsprache - vor Englisch - sprechen, größer als in den Städten des Südens ist. Nach dem letzten Zensus von 2001 gaben 16 Prozent der Personen über drei Jahren an, Walisisch »sprechen, lesen und schreiben« zu können. Über 71 Prozent (in Cardiff fast 84) der Waliser sagen, dass sie »keine Kenntnisse« besitzen.
Die Sprache ist schöner als ihre Zungenbrecher-Schreibweise Ungläubige vermu-ten lässt. Ortsnamen wie Llanfairpwllgwyngyll, Sitz der berühmten Webereien von James Pringle in Nordwales, machen mutlos, zumal es sich im genannten Fall nur um die Kurzfassung des längsten Ortsnamens der Welt handeln soll. Doch Walisisch ist eine der ältesten gesprochenen Sprachen Europas. Ihr singender Tonfall, der auch beim Englischsprechen den Waliser verrät, ist das äußere Zeichen der sprichwörtlichen Liebe vieler Waliser zu Poesie (Dylan Thomas) und Gesang (Männerchöre, Tom Jones, Shirley Bassey und Bonnie Tyler). Die Waliser gelten als gefühlsbetont, freundlich und redefreudig: Neil Kinnock, der ehemalige Labour-Führer und jetzige EU-Kommissar, ist manchen Paradebeispiel für einen »Welsh Windbag« - einen von Gefühlen und Selbsthypnose übermannten Schwätzer.

Tony Blair? Eine Margaret Thatcher in Hosen!

Hugh Evans war bis vor 15 Jahren Stahlarbeiter in Port Talbot und ist seit langem Chef des Dylan Thomas Centre am Yachthafen von Swansea. Wie der walisische Nationaldichter Dylan Thomas, dessen Todestag sich am 9. November zum 50. Mal jährt, liebt Evans seine walisische Heimat über die Maßen. Wie Thomas ist Evans in Swansea geboren. Aber wie Thomas (geb. 27. 10. 1914) kann auch er kein Walisisch sprechen.
Hugh Evans macht an diesem sonnigen Apriltag eine ausladende Armbewegung, um anzudeuten, wie sich das Gesicht seiner engeren Heimat verändert hat. »Bis vor zwanzig, dreißig Jahren gab es hier nur Industrie, Rauch und Dreck. Heute haben wir gute Luft und neue Berufe.« Er vermisse die alte Zeit nicht. Doch er wisse, wie zweischneidig das Erbe der stillgelegten Kohlegruben und Stahlwerke sei.
Nur wenige Kilometer landeinwärts, im großen und kleinen Rhondda-Tal etwa, sind mit den hauptsächlich in den Thatcher-Jahren geschlossenen Zechen auch die Arbeitsplätze für immer verschwunden. Eine Zeit lang befanden sich in Südwales die vier größten Eisenwerke der Welt, in den beiden Rhondda-Tälern allein 100 Kohlegruben. Während in Cardiff und Swansea neue Arbeitsmöglichkeiten im Dienstleistungs-, Finanz- und im Tourismussektor entstanden sind, und während noch immer jede dritte britische Tonne Rohstahl aus Wales kommt, ist in den einstigen Bergbautälern, deren schwarzes Gold vor 100 Jahren Cardiff und das benachbarte Barry zu den weltgrößten Kohle-Export-Häfen gemacht hatten, kein wirklicher Ausgleich entstanden. Die Arbeitslosigkeit in Orten wie Merthyr Tydfil, Blaenavon oder Aberdare ist vor allem unter Jugendlichen überdurchschnittlich hoch, die Dauer der Arbeitslosigkeit ist besonders lang, der Krankenstand bei vielfach depressiven Leiden enorm, Drogenkonsum und Kriminalität sind beispiellos groß. Bei Aberdare befindet sich übrigens die letzte arbeitende Grube von Südwales, die von Kumpels und Management übernommene Tower Colliery.
Eric Roberts, den ich am Sonntagabend im Schienenbus der Valley Lines auf der Strecke von Cardiff nach Merthyr Tydfil treffe, hält »zwei Namen verantwortlich für die Arbeitsplatzverluste: Maggie Thatcher, die den Jobabbau veranlasst, und Neil Kinnock, der ihn als Labourführer nicht verhindert hat«. Auch für Tony Blair hat der 63-jährige einstige Fabrikarbeiter und Gewerkschafter wenig übrig. Er nennt den Premier »eine Margaret Thatcher in Hosen« und ist vor allem mit der britischen Beteiligung am Irak-Krieg nicht einverstanden.
Beim Gang über die Haupteinkaufsstraße von Merthyr Tydfil ist wie so oft an einem Sonntag nicht mal zu ahnen, welch große Rolle die heutige Kreisstadt in der walisischen Industriegeschichte gespielt hat. Merthyr Tydfil war Herz und Seele der walisischen Bergarbeiter-Täler. Benannt nach der Heiligen Tydfil, einer Tochter des walisischen Häuptlings Brychan, die im Jahre 480 von einfallenden Truppen der Angelsachsen und Iren wegen ihres christlichen Glaubens getötet wurde, war die Kommune eine der ersten Adressen im Dampfmaschinenzeitalter. 1804, zehn Jahre bevor der berühmte spätere »Rocket«-Ingenieur George Stephenson (1781-1848) in Nordengland seine erste Lokomotive entwickelte, erfand Richard Trevithick in Merthyr Tydfil, der damals größten Stadt in Wales (8000 Einwohner) eine Dampfmaschine, die auf eisernen Schienen fuhr. Der 61-jährige William Jones zeigt, keine 200 Meter neben dem heutigen Bahnhof, den Verlauf der damaligen Strecke. Und Jones erwähnt auch die vermeintlich erste rote Fahne, die Arbeitern in Merthyr Tydfil zu verdanken sei: 1831 rebellierten Eisenarbeiter gegen ihre Hungerlöhne und sollen, um die Wirkung ihres Protests zu erhöhen, ihre Fahnen »in Kälberblut getränkt haben«.
Bill Jones sagt: »Das Hauptproblem hier im Tal des Flusses Taff sind heute fehlende Jobs und Niedriglohn, vor allem nachdem vor wenigen Monaten das große Stahlwerk in Ebbw Vale geschlossen wurde.« Nicht dass es an Kohle in Südwales mangelte. Ihre Förderung gilt inzwischen nur als zu teuer, ihre Lage im Berg als vielfach zu unsicher. Aber ob eines Tages doch wieder der Ruf nach der hochwertigen Kohle von Südwales erschallt - wer weiß.
Vorläufig versuchen ehemalige Bergarbeitergemeinden wie Blaenavon, unlängst zum Weltkulturdenkmal erklärt, mit dem Big Pit Mining Museum und den Blaenavon Ironworks durch ihre bewegte, nicht selten blutige Geschichte des walisischen Kohlebergbaus Touristen anzulocken und ein paar zusätzliche Pfund in die Kommunen zu holen.

Kein walisischer Tory im Unterhaus

Am 1. Juli 1999 wurden im Zuge der Dezentralisation Britanniens einige Befugnisse wie Wirtschaftsförderung, Gesundheit und Erziehung in die Verantwortung der im selben Jahr erstmals gewählten Regionalversammlung (Welsh Assembly) gelegt. Aber Wales bleibt Teil des Königreichs, und auch der Staatsminister für Wales sowie die Parlamentsabgeordneten der walisischen Wahlkreise (momentan 40 der insgesamt 659 im Unterhaus) bleiben im nationalen Parlament von Westminster in London vertreten. Nach der letzten britischen Unterhauswahl verteilen sich die 40 walisischen Sitze auf Labour (34), die links-nationalistische Plaid Cymru (4) und die Liberalen (2). Die Tories stellen keinen einzigen Unterhausabgeordneten aus Wales!
Die nächste Wahl zur Assembly in Cardiff findet am 1. Mai statt. Stärkste Partei in der Region ist - traditionell - die Labour Party. Doch die beim letzten Mal mit 30 Prozent zweitstärkste, die nationalistische und auf stärkere walisische Eigenständigkeit zielende »Plaid Cymru - The Party of Wales«, die derzeit über ein Viertel der Abgeordneten stellt, hofft auf weiteren Auftrieb, einschließlich einer Überraschung gegen die hier übermächtige Labour Party.

Herb, kühl, bisweilen einsam - aber anziehend

Wales besitzt auf einem Viertel seiner Gesamtfläche drei Nationalparks und fünf Regionen, die offiziell als »Gebiet von außerordentlicher landschaftlicher Schönheit« eingestuft sind. Vor allem ihretwegen kommt eine wachsende Zahl von Touristen. Wer im Urlaub eher kühles Wetter, Ruhe, ja Einsamkeit sucht, nichts mit überfüllten Stränden im Sinn und mit großstädtischen Bettenburgen am Hut hat, wer geschichtsinteressiert und wanderlustig, linksfahrtauglich und rugby-bedürftig (in Wales kein Sport, sondern Religion) ist, wird seinen Blick irgendwann zwangsläufig auf Wales richten.
Die Halbinsel Gower etwa, südwestlich von Swansea, mit ausgedehnten Buchten, Sandstränden und gewaltigen Klippen wurde 1956 zum ersten »Gebiet von außerordentlicher landschaftlicher Schönheit« erklärt. Die herbe Landschaft, im Frühling mit gelbblühendem Ginster und zu allen Jahreszeiten mit weidenden Schafen übersät, erinnert an Cornwall im englischen Südwesten und an die französische Bretagne. Das quirlige Cardiff, Bewerber um den Titel »Europas Kulturhauptstadt 2008«, ist auf Gower, wiewohl nur eine gute Autostunde entfernt, Welten weg. Wer von der Terrasse in »Thomas Tea Rooms« hoch über der Sandbucht von Rhossili an der äußersten Südwestspitze Gowers auf die Atlantikwellen blickt oder beim nahen Worms Head das lang gestreckte, wie ein vorsintflutliches Tier mit gewaltigem Kopf im Wasser liegende Felsmassiv im Meer ruhen sieht, wähnt sich außerhalb von Zeit und Raum.
Für Norman Davies, Verkäufer im kleinen Supermarkt von Parkmill, liegt hier die Erklärung für steigende Besucherzahlen »besonders auch aus Deutschland und Holland« sowie für den Zuzug betuchter Waliser, die sich auf Gower »den Wunsch nach Grün, Wasser und Ruhe erfüllen«. Kurz vor dem Gespräch in Normans Laden hatte die BBC Radio Wales gemeldet, dass die Hauspreise in Wales im letzten Jahr um 20 Prozent gestiegen seien und ein Haus heute im Schnitt 87 000 Pfund (ca. 130 000 Euro) koste. Mr. Davies hatte darauf hinter seiner Ladentheke sofort werbetauglich pariert: »In London müssen Sie für ein Haus durchschnittlich 220 000 Pfund berappen.«
Der Flughafen »Cardiff International« ist überschaubar. Wales ist familiär. Der Bus draußen vor der Tür, der es in 40 Minuten ins Zentrum der Hauptstadt schafft, lässt auf sich warten. Wenigstens regnet es nicht. Dies die erste Überraschung. Sieben Tage später, wieder auf dem Flughafen, hatte es immer noch keinen Tropfen gegeben. Vielmehr schien die Sonne schön wie nie über dem Land der drei Millionen Waliser. Im April. Spätestens da war nicht mehr zu bestreiten: Wales verändert sich.
Mit gut 20 000 Quadratkilometern ist der Landesteil nur ein bisschen größer als Thüringen, nicht mal ein Zehntel Britanniens ausmachend. Gemessen daran ist die Region, die zum so genannten Keltischen Saum von Schottland über Irland, Cornwall bis in die Bretagne gehört, abwechslungsreich: Der Süden und Westen voller Kontraste - mit den Bergen des Brecon Beacons Nationalparks, den einstigen Industrie- und Kohletälern im Hinterland von Cardiff , den Klippen und Sandstränden des Pembrokeshire Küstennationalparks im Südwesten. In Südwales leben fast zwei Drittel der Bevölkerung. Hier befinden sich auch die größten Städte: die Hauptstadt (323 000 Einwohner) und Swansea (301 500).
Das dünn besiedelte Mittelwales (keine halbe Million Menschen) ist sanft hügelig, mit abgelegenen Hochplateaus, einsamen Bergstraßen und kühlen Wäldern, stillen Seen und weiten Meeresbuchten. Nordwales (660 000 Bewohner) ist geprägt von rauer, zerklüfteter Bergwelt mit dem Snowdon (1085 Meter) als höchstem Berg von England und Wales, und von einer Bevölkerung, in der der Anteil derer, die Walisisch als Erstsprache - vor Englisch - sprechen, größer als in den Städten des Südens ist. Nach dem letzten Zensus von 2001 gaben 16 Prozent der Personen über drei Jahren an, Walisisch »sprechen, lesen und schreiben« zu können. Über 71 Prozent (in Cardiff fast 84) der Waliser sagen, dass sie »keine Kenntnisse« besitzen.
Die Sprache ist schöner als ihre Zungenbrecher-Schreibweise Ungläubige vermu-ten lässt. Ortsnamen wie Llanfairpwllgwyngyll, Sitz der berühmten Webereien von James Pringle in Nordwales, machen mutlos, zumal es sich im genannten Fall nur um die Kurzfassung des längsten Ortsnamens der Welt handeln soll. Doch Walisisch ist eine der ältesten gesprochenen Sprachen Europas. Ihr singender Tonfall, der auch beim Englischsprechen den Waliser verrät, ist das äußere Zeichen der sprichwörtlichen Liebe vieler Waliser zu Poesie (Dylan Thomas) und Gesang (Männerchöre, Tom Jones, Shirley Bassey und Bonnie Tyler). Die Waliser gelten als gefühlsbetont, freundlich und redefreudig: Neil Kinnock, der ehemalige Labour-Führer und jetzige EU-Kommissar, ist manchen Paradebeispiel für einen »Welsh Windbag« - einen von Gefühlen und Selbsthypnose übermannten Schwätzer.

Tony Blair? Eine Margaret Thatcher in Hosen!

Hugh Evans war bis vor 15 Jahren Stahlarbeiter in Port Talbot und ist seit langem Chef des Dylan Thomas Centre am Yachthafen von Swansea. Wie der walisische Nationaldichter Dylan Thomas, dessen Todestag sich am 9. November zum 50. Mal jährt, liebt Evans seine walisische Heimat über die Maßen. Wie Thomas ist Evans in Swansea geboren. Aber wie Thomas (geb. 27. 10. 1914) kann auch er kein Walisisch sprechen.
Hugh Evans macht an diesem sonnigen Apriltag eine ausladende Armbewegung, um anzudeuten, wie sich das Gesicht seiner engeren Heimat verändert hat. »Bis vor zwanzig, dreißig Jahren gab es hier nur Industrie, Rauch und Dreck. Heute haben wir gute Luft und neue Berufe.« Er vermisse die alte Zeit nicht. Doch er wisse, wie zweischneidig das Erbe der stillgelegten Kohlegruben und Stahlwerke sei.
Nur wenige Kilometer landeinwärts, im großen und kleinen Rhondda-Tal etwa, sind mit den hauptsächlich in den Thatcher-Jahren geschlossenen Zechen auch die Arbeitsplätze für immer verschwunden. Eine Zeit lang befanden sich in Südwales die vier größten Eisenwerke der Welt, in den beiden Rhondda-Tälern allein 100 Kohlegruben. Während in Cardiff und Swansea neue Arbeitsmöglichkeiten im Dienstleistungs-, Finanz- und im Tourismussektor entstanden sind, und während noch immer jede dritte britische Tonne Rohstahl aus Wales kommt, ist in den einstigen Bergbautälern, deren schwarzes Gold vor 100 Jahren Cardiff und das benachbarte Barry zu den weltgrößten Kohle-Export-Häfen gemacht hatten, kein wirklicher Ausgleich entstanden. Die Arbeitslosigkeit in Orten wie Merthyr Tydfil, Blaenavon oder Aberdare ist vor allem unter Jugendlichen überdurchschnittlich hoch, die Dauer der Arbeitslosigkeit ist besonders lang, der Krankenstand bei vielfach depressiven Leiden enorm, Drogenkonsum und Kriminalität sind beispiellos groß. Bei Aberdare befindet sich übrigens die letzte arbeitende Grube von Südwales, die von Kumpels und Management übernommene Tower Colliery.
Eric Roberts, den ich am Sonntagabend im Schienenbus der Valley Lines auf der Strecke von Cardiff nach Merthyr Tydfil treffe, hält »zwei Namen verantwortlich für die Arbeitsplatzverluste: Maggie Thatcher, die den Jobabbau veranlasst, und Neil Kinnock, der ihn als Labourführer nicht verhindert hat«. Auch für Tony Blair hat der 63-jährige einstige Fabrikarbeiter und Gewerkschafter wenig übrig. Er nennt den Premier »eine Margaret Thatcher in Hosen« und ist vor allem mit der britischen Beteiligung am Irak-Krieg nicht einverstanden.
Beim Gang über die Haupteinkaufsstraße von Merthyr Tydfil ist wie so oft an einem Sonntag nicht mal zu ahnen, welch große Rolle die heutige Kreisstadt in der walisischen Industriegeschichte gespielt hat. Merthyr Tydfil war Herz und Seele der walisischen Bergarbeiter-Täler. Benannt nach der Heiligen Tydfil, einer Tochter des walisischen Häuptlings Brychan, die im Jahre 480 von einfallenden Truppen der Angelsachsen und Iren wegen ihres christlichen Glaubens getötet wurde, war die Kommune eine der ersten Adressen im Dampfmaschinenzeitalter. 1804, zehn Jahre bevor der berühmte spätere »Rocket«-Ingenieur George Stephenson (1781-1848) in Nordengland seine erste Lokomotive entwickelte, erfand Richard Trevithick in Merthyr Tydfil, der damals größten Stadt in Wales (8000 Einwohner) eine Dampfmaschine, die auf eisernen Schienen fuhr. Der 61-jährige William Jones zeigt, keine 200 Meter neben dem heutigen Bahnhof, den Verlauf der damaligen Strecke. Und Jones erwähnt auch die vermeintlich erste rote Fahne, die Arbeitern in Merthyr Tydfil zu verdanken sei: 1831 rebellierten Eisenarbeiter gegen ihre Hungerlöhne und sollen, um die Wirkung ihres Protests zu erhöhen, ihre Fahnen »in Kälberblut getränkt haben«.
Bill Jones sagt: »Das Hauptproblem hier im Tal des Flusses Taff sind heute fehlende Jobs und Niedriglohn, vor allem nachdem vor wenigen Monaten das große Stahlwerk in Ebbw Vale geschlossen wurde.« Nicht dass es an Kohle in Südwales mangelte. Ihre Förderung gilt inzwischen nur als zu teuer, ihre Lage im Berg als vielfach zu unsicher. Aber ob eines Tages doch wieder der Ruf nach der hochwertigen Kohle von Südwales erschallt - wer weiß.
Vorläufig versuchen ehemalige Bergarbeitergemeinden wie Blaenavon, unlängst zum Weltkulturdenkmal erklärt, mit dem Big Pit Mining Museum und den Blaenavon Ironworks durch ihre bewegte, nicht selten blutige Geschichte des walisischen Kohlebergbaus Touristen anzulocken und ein paar zusätzliche Pfund in die Kommunen zu holen.

Kein walisischer Tory im Unterhaus

Am 1. Juli 1999 wurden im Zuge der Dezentralisation Britanniens einige Befugnisse wie Wirtschaftsförderung, Gesundheit und Erziehung in die Verantwortung der im selben Jahr erstmals gewählten Regionalversammlung (Welsh Assembly) gelegt. Aber Wales bleibt Teil des Königreichs, und auch der Staatsminister für Wales sowie die Parlamentsabgeordneten der walisischen Wahlkreise (momentan 40 der insgesamt 659 im Unterhaus) bleiben im nationalen Parlament von Westminster in London vertreten. Nach der letzten britischen Unterhauswahl verteilen sich die 40 walisischen Sitze auf Labour (34), die links-nationalistische Plaid Cymru (4) und die Liberalen (2). Die Tories stellen keinen einzigen Unterhausabgeordneten aus Wales!
Die nächste Wahl zur Assembly in Cardiff findet am 1. Mai statt. Stärkste Partei in der Region ist - traditionell - die Labour Party. Doch die beim letzten Mal mit 30 Prozent zweitstärkste, die nationalistische und auf stärkere walisische Eigenständigkeit zielende »Plaid Cymru - The Party of Wales«, die derzeit über ein Viertel der Abgeordneten stellt, hofft auf weiteren Auftrieb, einschließlich einer Überraschung gegen die hier übermächtige Labour Party.

Herb, kühl, bisweilen einsam - aber anziehend

Wales besitzt auf einem Viertel seiner Gesamtfläche drei Nationalparks und fünf Regionen, die offiziell als »Gebiet von außerordentlicher landschaftlicher Schönheit« eingestuft sind. Vor allem ihretwegen kommt eine wachsende Zahl von Touristen. Wer im Urlaub eher kühles Wetter, Ruhe, ja Einsamkeit sucht, nichts mit überfüllten Stränden im Sinn und mit großstädtischen Bettenburgen am Hut hat, wer geschichtsinteressiert und wanderlustig, linksfahrtauglich und rugby-bedürftig (in Wales kein Sport, sondern Religion) ist, wird seinen Blick irgendwann zwangsläufig auf Wales richten.
Die Halbinsel Gower etwa, südwestlich von Swansea, mit ausgedehnten Buchten, Sandstränden und gewaltigen Klippen wurde 1956 zum ersten »Gebiet von außerordentlicher landschaftlicher Schönheit« erklärt. Die herbe Landschaft, im Frühling mit gelbblühendem Ginster und zu allen Jahreszeiten mit weidenden Schafen übersät, erinnert an Cornwall im englischen Südwesten und an die französische Bretagne. Das quirlige Cardiff, Bewerber um den Titel »Europas Kulturhauptstadt 2008«, ist auf Gower, wiewohl nur eine gute Autostunde entfernt, Welten weg. Wer von der Terrasse in »Thomas Tea Rooms« hoch über der Sandbucht von Rhossili an der äußersten Südwestspitze Gowers auf die Atlantikwellen blickt oder beim nahen Worms Head das lang gestreckte, wie ein vorsintflutliches Tier mit gewaltigem Kopf im Wasser liegende Felsmassiv im Meer ruhen sieht, wähnt sich außerhalb von Zeit und Raum.
Für Norman Davies, Verkäufer im kleinen Supermarkt von Parkmill, liegt hier die Erklärung für steigende Besucherzahlen »besonders auch aus Deutschland und Holland« sowie für den Zuzug betuchter Waliser, die sich auf Gower »den Wunsch nach Grün, Wasser und Ruhe erfüllen«. Kurz vor dem Gespräch in Normans Laden hatte die BBC Radio Wales gemeldet, dass die Hauspreise in Wales im letzten Jahr um 20 Prozent gestiegen seien und ein Haus heute im Schnitt 87 000 Pfund (ca. 130 000 Euro) koste. Mr. Davies hatte darauf hinter seiner Ladentheke sofort werbetauglich pariert: »In London müssen Sie für ein Haus durchschnittlich 220 000 Pfund berappen.«

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