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FDP – das Doppelzünglein an der Waage

  • UWE STEMMLER
  • Lesedauer: 4 Min.

Ministerspiel

Karikatur: Harald Kretzschmar

Die überraschende Entscheidung für Kinkel als neuen Außenminister, nachdem das Präsidium am Vorabend Irmgard Schwaetzer nominiert hatte, demonstriere die „funktionierende innerparteiliche Demokratie“, meinte gestern FDP-Generalsekretär Uwe Lühr. Da ist wohl mit dem gelernten Ossi die Nostalgie durchgegangen. Wie hieß es doch in offiziellen Politstatistiken in der DDR: „Die zunehmende Anzahl von Eingaben und Beschwerden zeugen von der gewachsene Demokratie.“ Es ist eine alte Erfahrung: Wenn Politiker das Wort Demokratie benutzen, dann meist als Deckel, um Übles zu verbergen.

Doch dieser Versuch Lührs ist zwecklos, der Eimer quillt über. Wer bisher noch annahm - gewiß gibt es noch einige Leute in diesem Lande, die das tun -, daß für die höchsten Staatsämter Kompetenz die wichtigste Voraussetzung ist, den hat die FDP eines Besseren belehrt. Die Folgen des Genscher-Rücktritts haben erneut offenbart, was schon den letzten Liberalen-Parteitag prägte: In der Führungsspitze ist ein Machtgerangel im Gange, das jegliche Diskussion um politische Inhalte ins Abseits drängt.

„Warum, wurde K^nkd Außenminister? Kramen wir ein wenig in dem Müllberg. Als erstes fällt uns die einfachste^ Begründung in die Hände. Das Amt fällt entsprechend den Koalitonsabsprachen der FDP zu - ganz gleich, ob sie dafür auch eine geeignete Person hat. Doch weiter. Warum wurde zunächst vom Präsidium Frau Schwaetzer vorgeschlagen? Da muß man schon etwas tiefer wühlen. Graf Lambsdorff will 1993, beim nächsten FDP-Parteitag, seinen Hut als Vorsitzender nehmen. Anspruch auf sein Erbe haben inzwischen mehr oder weniger deutlich vier Parteifreunde angemeldet: Jürgen Mölle-

mann, Irmgard Schwaetzer, Klaus Kinkel und Wolfgang Gerhardt. Möllemann war bis zum '91er Parteitag der hohe Favorit, doch die Delegierten zeigten ihm so ziemlich die kalte Schulter. Auch Lambsdorff ist auf den hemdsärmeligen Wirtschaftsminister nicht allzugut zu sprechen, der hält mehr auf Kinkel. Frau Schwaetzer ist eigentlich ein Ziehkind Genschers, aber so richtig will sie sich keiner als Vorsitzende vorstellen - eine Frau an der Spitze der FDP wäre auch ein Anachronismus. Der stille Ger-

hardt hat im Moment scheinbar keinen Mäzen, seinen Rückhalt bezieht er allein aus der hessischen Basis.

Als Genscher nun seinen Rücktritt ankündigte, postulierte die Parteiführung: Wer Außenminister wird, kommt für den Vorsitzendenposten nicht mehr in Frage. Dann ging offenbar die Rechnerei los, Möllemann lehnte das Erbe sofort ab, Kinkel hätte sicher gern zugegriffen, doch hielt sich bedeckt. Und beide stimmten denn auch zu, als Lambsdorff Frau Schwaetzer

für das Auswärtige Amt vor- und damit die Konkurrentin für den Parteivorsitz aus dem Wege schlug.

Da murrte aber nun - mal abgesehen vom bayrischen Erzfeind CSU - die „FDP-Basis“, sprich die Fraktion. Was die Männer-.Frauen gibt es da nur ein rundes Dutzend gegen die Kandidatin hatten, wurde nicht ausgesprochen. Sie fühlten sich einfach übergangen, sagten sie. Und wählten damnach aus Trotz Kinkel. Möllemann wird sich gefreut haben. Frau Schaetzer, nun angeschlagen, hat wieder das wenig karriereträchtige Bauministerium am Hals, Kinkel geht auf Reisen und er selbst faßte noch den schönen Titel „Vizekanzler“ ab. Doch wer zuletzt lacht, lacht am besten: Kinkel, der nach den Beifallsbekundungen auf dem letzten FDP-Parteitag getrost als die Gro-ße Gelbe Hoffnung anzusehen ist, kann sich nun sehr viel besser profilieren, im Justizministerium standen zu viele Fettnäpfchen rum. Und wenn es sein muß kann er den Posten ja nach dem '93er Parteitag wieder abgeben.

Und wie ist es mit der anderen Minister-Wahl, mit der Nachfolgerin für das Justizministerium? Vielleicht waren die Überlegungen hier so schlicht, wie bei der vorangegangen Entscheidung. Man schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Mit der Wahl von Sabine Leutheusser-Schnarrfnberger demonstrierte man, daß die Entscheidung gegen Irmgard Schwaetzer natürlich ganz und gar nicht frauenfeindlich war. Zum anderen schlug man den zweiten Kandidaten Burkhard Hirsch aus dem Feld, dessen fürchterlich liberale Gesinnung ihnen schon lange über ist.

Ach ja, die „funktionierende Demokratie“. Es ist doch schön, daß diese durch und durch menschliche Partei das Zünglein an der Waage in der politischen Landschaft der Bundesrepublik ist.

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