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Der Kampf um den Roten Platz oder das große „Säubern“ zum 1 . Mai

  • unserem Moskauer Korrespondenten KLAUS JOACHIM HERRMANN
  • Lesedauer: 3 Min.

Rechtzeitig zum 1. Mai bläst die Moskauer Stadtregierung zum „Großen Säubern“. Seit gestern kommen mit „entschlossenen Maßnahmen“ wenig attraktive Begleiterscheinungen des neuen russischen Marktes unter den Besen die „freien Märkte“ an zentralen Plätzen der Hauptstadt. Dort, wo sich in den letzten Wochen Spekulanten und unter den drastischen Segnungen der Reform verarmte Mitbürger mancher und nicht selten letzter Habe entledigten, zieht nun Miliz auf.

Rein gehalten werden sollte auch der Versammlungsort Roter Platz. Mit der einschläfernden Wirkung einer geschickten Streuung von

Feiertagen, historisch üblicherweise zwei, hoffte man auf Beschränkung der Demonstrationslust: Wenn der 1. Mai Feiertag ist und der ihm folgende 2. auf den Sonnabend fällt, kann man durch einen freien Montag in der Phase des Frühlingserwachens schon mal die Datschenbesitzer umlenken. Das wiederholt sich übrigens nach gleichem Schema vom 9. bis 11. Mai. Wer feiert, der arbeitet zwar nicht, hat aber auch geringere Neigung zu politischer Manifestation.

In nicht ungewohnter Einheit von Staat und Gewerkschaften zeigte sich die Moskauer Föderation der letzteren durchaus willig, am obrigkeitlichen Säubern teilzu-

haben. Vorauseilend ließ Vorsitzender Schmakow wissen, daß man Demonstration und Meeting vor dem Gorki-Park erbitte und die „Nutzung des Roten Platzes für politische Kämpfe, die Demonstration politischer, sozialer Konflikte und Meinungsverschiedenheiten für nicht annehmbar“ halte. Klimaverbessernd sollte später dann wohl auch die erklärte Bereitschaft wirken, auf „jegliche politischen Losungen und Forderungen“ zu verzichten. Man unterstütze den wirtschaftlichen Kurs der Regierung, hieß es. Zahm und nicht eben realitätsnah mahnte man bei einer Erhöhung der Energiepreise auch die der Löhne auf Weltniveau an.

Anders hingegen einmal mehr die Bewegung „Werktätiges Moskau“, die ihrem Profil als Opposition einen weiteren Strich hinzufügte. Die offen zur Schau getragene Unzufriedenheit mit dem verordneten Versammlungsort Lushniki und das Beharren ^uf der Forderung nach Rotem Platz zeitigte Erfolg. Vom Lenin-Denkmal auf dem Oktober-Platz zieht man nun doch zum Roten Platz. Dabei dürfte wohl auch die unverhüllte Drohung mit dem Hinweis auf die Verantwortung der Stadtväter bei einer Wiederholung der peinlichen Ereignisse vom 23. Februar geholfen haben - damals hatte man mit Miliz und Omon-Sondertruppe die

Twerskaja tat- und schlagkräftig abgeriegelt.

Die Moskauer Stadtregierung zeigte sich schließlich nicht nur zur Öffnung des magischen Ortes bereit, sondern erteilte auch „neokommunistischen“ Gruppierungen Genehmigung zur Nutzung des Lenin-Mausoleums. Dort könnten demnach die Chefs von „Trudowaja Moskwa“, „Russischer Kommunistischer Arbeiterpartei“, „Vereinte Front der Werktätigen“ oder der Bewegung „Lenin und Vaterland“ Platz finden. Daß sich offi-'zielle Vertreter der Macht, die diesen Ort sehr wohl von eigenen Auftritten noch kennen dürften, dazu bereitfinden, ist absolut auszuschließen.

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