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Keine Koalition in Polen – nun ist der Präsident am Zuge

  • ANDREAS MÜHLMANN, Warschau
  • Lesedauer: 4 Min.

Polen ist seit vergangener Woche um eine Hoffnung ärmer. Trotz der unsicheren Mehrheitsverhältnisse im Parlament, trotz der schweren sozialen Belastungen, die die gegenwärtige Etappe der polnischen Reformen mit sich bringt, und trotz eines riesigen Budgetdefizits haben es die vornehmlich aus der „Solidarnosc“-Bewegung stammenden Parteien nicht geschafft, eine große Koalition zu bilden. Damit ist die Situation im Land noch instabiler geworden. Das Minderheitskabinett, das nur ein Drittel der Abgeordneten hinter sich hat, muß bei jeder Entscheidung wieder bangen. Das Gezänk der 29 Parlaments-Parteien erschwert eine zügige Fortführung der Reformen.

Der Mißerfolg bei den Verhandlungen zur Erweiterung des Kabinetts und damit zur Schaffung einer sicheren Basis im Parlament wird vor allem Premier Jan Olszewski angelastet. Die Demokratische Union des ersten Solidarnosc-Premiers Tadeusz Mazowiecki, der Liberal-Demokratische Kongreß

seines Nachfolgers Jan Krzysztof Bielecki und das um die Bierfreundepartei versammelte „Polnische Wirtschaftsprogramm“ hatten ein Bündnis mit den Regierungsparteien davon abhängig gemacht, daß die Zahl der Ministerposten nach dem Verhältnis der Sejm-Mandate vergeben wird. Das wäre vor allem der Union zugute gekommen, die die stärkste Fraktion stellt. Dem wollte Olszewski aber unter keinen Umständen zustimmen. Er weigerte sich auch, strategische Ressorts wie Innen-, Verteidigungs- und Außenministerium zur Disposition zu stellen.

Zudem verlangte Olszewski, daß sich die drei künftigen Bündnispartner gemeinsam mit den sieben Regierungsparteien für einen Verbleib von Jan Parys an der Spitze des Verteidigungsministeriums einsetzen sollten. Dieser war vor zwei Wochen beurlaubt worden, nachdem er Lech Walesa nahestehenden Politikern vorgeworfen hatte, sie würden ohne sein Wissen geheime Kontakte zu hohen Offi-

zieren aufnehmen und wichtige Armeeposten neubesetzen wollen. Der Präsident zeigte sich über Parys' Vorwürfe sehr verärgert, und als eine eilig berufene Sonderkommission der Regierung die Beschuldigungen im Prinzip zu bestätigen schien, wurde auf sein Drängen hin ein weiterer Sonderausschuß, diesmal vom Parlament, gebildet.

Diese Auseinandersetzung ist nicht mehr nur ein Streit zwischen Ministerium und Präsidialkanzlei um die Kompetenzen in der Verteidigungspolitik, sondern auch um die Machtpositionen zwischen Walesa und der Regierung. In den wollte sich Mazowiecki in keinem Fall einmischen. So führte die Frage der Besetzung der Ministerämter schließlich zum Scheitern der Koalitionsverhandlungen. Mazowiecki und seine politischen Partner steigen aus.

Wie wacklig der Stuhl von Olszewski seitdem ist, zeigte sich, als führende Politiker - auch der Regierungsparteien - schon wenige Tage später mögliche Nachfolger

für den Premiersessel nannten. Allen voran der zuletzt aus schwacher Position amtierende Walesa, der mit dem Fiasko der Koalitionsverhandlungen wieder am Zuge ist. Er plädierte in dieser Woche für die Übernahme des französischen Systems mit einem starken Staatschef, die Einführung einer über den Parteien stehenden Regierung von Fachleuten und .benannte gleich noch seine Wunschkandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten: Mazowiecki und den erst seit März im Amt befindlichen Finanzminister Andrzej Olechowski, einen der wenigen Fachmänner in Olszewskis Kabinett.

Im Moment blickt alles auf den Premier und wartet, wie er aus der Sackgasse herauskommen will. Sein Schicksal könnte sich Anfang Mai entscheiden, wenn der Haushalt vom Sejm in zweiter Lesung behandelt wird. Fällt der Entwurf, der trotz einer geplanten Neuverschuldung von 65 Billionen Zloty (etwa acht Milliarden DM) auf allen Gebieten den Rotstift ansetzt,

durch, dürften seine Amtstage gezählt sein.

Neuwahlen will allerdings keiner. Jüngste Umfragen bestätigen Befürchtungen, daß die Wahlbeteiligung noch geringer wäre, als bei den ersten freien Parlamentswahlen im Oktober. Die von zunehmenden sozialen Belastungen gebeutelten Polen wenden sich von der kaum noch durchschaubaren Politik immer stärker ab. Nicht zufällig fiel gerade in diese Zeit der Instabilität die größte Protestaktion seit dem Abtritt des alten Regimes im Sommer 1989. Die Gewerkschaft Solidarnosc brachte in der Vorwoche rund 50 000 Menschen auf die Beine. Heute sind in Polen zwölf Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Job, die Reallöhne sanken im ersten Quartal um runde zehn Prozent. Solidarnosc-Chef Marian Krzaklewski machte seinen alten Bekannten in der Regierung den Ernst der Lage unmißverständlich bewußt: Dies ist die letzte Warnung, beim nächsten Mal folgt der Generalstreik.

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