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Agent im Blauhemd

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dem Dauerleben auf Baustellen angepaßt. Intelligenz hospitiert.

Unterzeichnung der Formulare gerät zum Selbstzweck. Rasch unterschrieben die Frauen. Der Akt an sich. Ende der sozialen Aktion. Gerücht, daß je eine Frau bei jeder Gelegenheit ein Formular unterschrieb.

Gigantische Treffen der Jugend in großer Stadt. Provinzler zum ersten Mal in Berlin oder Leipzig. Generalstab denkt anstelle von tausend Klein-Stäben. Hundert Bühnen und Plätze, die besten Ensembles. Schön und gut. Groß. Was geschah zwischen den Festen?

Weltfestspiele Berlin 51. Zwei Millionen, Anreise in drei Wellen. Vor dritter Welle Bestürzung im Landkreis Jena. Teilnehmerkupons, fünfzehn Mark das Stück, billig, doch bei der Masse viel Geld, waren verschwunden.

Und wenn Sonderzüge LEER in Berlin ankämen?“ Was dann?

Nächstes- Festival national in Leipzig. Zum Abschluß dreihunderttausend Blauhemden vors Opernhaus. Rede des Staatspräsidenten. T wollte erleben, wie der Präsident - seine Wirtin hatte „netter alter Herr“ gesagt - zur Jugend spricht.

Die jungen Leute hören nicht. Ihr Präsident? Treiben Schabernack und warten nicht bis zur Heimfahrt im Sonderzug.

Der nette alte Herr aber sprach. T stand beisammen mit S, seinem

Stellvertreter. S hatte bei T schon oft stillen Ärger erregt. S war stets im reinen mit obren Etagen. Keine Probleme. Blick zum Himmel.

T zu S: „Da hast Du Deinen stolzen Millionenverband. Was flackert, ist Strohfeuer. Kann bald erlöschen, wenn wir so weitermachen.“

Eins kommt zum andren. T fand es störend, Stalin symbolisch ins Präsidium größrer Versammlungen zu wählen. Hat nichts mit Vertrauen für Stalin zu tun.

Was aber jetzt geschieht, übertrifft die Peinlichkeit drei Mal. Im Vorfeld ihrer Tagung war den Jenensern angeboten, einen Funktionär U aus der Hauptstadt zu wählen. Nicht symbolisch. Nein, ordentlich. Doch fanden Funktionäre in Jena, es sei eine große Ehre, den U aus der Zentrale wählen zu dürfen. T hält dagegen, der Berliner könne ja in Jena sprechen. Gute Rede - sichre Wahl. Da eskaliert der Fall zur dritten Potenz. Der Freund aus Honeckers Zentralrat hatte gar nicht die Absicht, in Jena anwesend zu sein. ?

Einwurf von T: Sogar der große Stalin hat vor seinen Wählern im Moskauer Wahlbezirk gesprochen. In eigner Person. Man kenne doch die Broschüre mit Stalins Rede auf der Wählerversammlung in Moskau.

T zu Funktionärskollegen unter vier Augen. Wie weiter? Da wird er zur Rede gestellt. Man habe gehört ... Ob das nicht objektiv Spaltung der FDJ sei.

Einer vom Landesvorstand läßt gelten, T habe subjektiv ehrlich gehandelt.

Es steht auf der Kippe. Kann ein guter Redner nicht anknüpfen? T wird jähzornig. Kontrolle entgleitet ihm. Der fünfte Redner nennt ihn Rias-Agent. Der achte ruft: Ich möchte wissen, was T vom Gegner bezahlt kriegt.

Ausschluß aus FDJ. Studium ex. T wieder Erdarbeiter.

Nun begab es sich, daß in den Ferien Funktionäre aller Hochschulen in die Hauptstadt beordert wurden. Vor ihnen sprach auch L vom Zentralrat: Beweis, daß T bezahlter Agent sei, habe man. T hätte ihn selber geliefert. Er sei in den Westen ausgerückt. Pause. Leute aus Jena diskret zu L: Wir kennen T, der macht so was nicht. Und gestern sahen wir ihn zu Hause.

L hat geantwortet: „Das ist mir nur so aus dem Mund gerutscht.“

Es geschah nichts.

Das Ende stand noch bevor. Parteiversammlung nach Sommerpause. SIE hatte das letzte Wort. Bleibt FDJ Strohfeuer? Stolz statt Arbeit? Muß sich ein Funktionär seinen Wählern stellen?

Versammlungsleiter: „Erster Punkt - Ausschluß des T“. DES T! Einwurf des Altkommunisten Georg Klaus: „Da das Verfahren noch schwebt, haben wir es mit dem GE-NOSSEN T zu tun.“ Ergänzung von T: “Daß ich nie Rias höre, kann mein Wohngefährte bestätigen. Er wartet vorm Versammlungsraum.“

Es steht auf der Kippe.

Klaus hatte bei den Nazis vorm Reichsgericht gestanden. Zuchthaus und anschließend KZ. Die jungen Genossen schweigen. Die Wortführer auch. Was außer Schweigen gesagt wurde, geriet in Vergessenheit. Ein zweiter Altkommunist ist nicht dabei.

Klaus ist Professor für Logik und Philosophie. Die Versammlung beschließt den Ausschluß des T.

Traurig geht T nach Hause, die Goethe-Allee hinab, durch die Gassen. Am Paradiespark über die Saale. An der Brücke wird er morgen die Straßenbahn besteigen, die zum Beuthenberg fährt, wo das mikrobiologische Institut gebaut wird.

MEHR HATTE T NICHT RIS-KIERT.

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