nd-aktuell.de / 04.06.1992 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 8

Wirkliche Reform ist nur vertagt

Dr. JOACHIM BISCHOFF

Geradezu genüßlich zählte Gesundheitsminister Seehofer vor der Presse auf, was die Regierung dem kleinen Mann auf der Straße alles erspart, wurde berichtet, daß Kostendämpfung im Gesundheitswesen eben nicht bedeutet, für jeden Arztbesuch in die Tasche zu greifen. Njur 3 Milliarden Mark will Seehofer von den Patienten haben, während der Löwenanteil von 8 Milliarden Mark von der Pharmaindustrie und den Ärzten kommen soll. Hat die Bundesregierung ihr soziales Gewissen entdeckt?

Wohl kaum. Nur gut 3 Jahre hat Blüms „Jahrhundertreform“ gehalten, für die die Versicherten 8 Milliarden Mark berappen mußten, während alle anderen fleißig weiter verdienten. Die jetzt vorgesehenen Stopps bei Arzneimittelpreisen und Arzthonoraren gleichen die damalige soziale Schieflage keineswegs aus, vorausgesetzt, sie lassen sich überhaupt realisieren. Und da sind gerade nach den Erfahrungen der letzten Jahre, in denen der Pharmaindustrie gelang, Festpreisregelungen zu umgehen und zu unterlaufen, erhebliche Zweifel anzumelden. Der Beweis, daß mehr herauskommt als die weitere Aufblähung bürokratischer Kontrollapparate, muß erst noch erbracht werden. Bis dahin ist allein real, daß die Patienten zahlen.

Und natürlich die Versicherten. Denn was jetzt an Konsolidierung angepeilt ist, reicht gerade, das Defizit von gut 10 Milliarden DM auszugleichen. Etliche Kassen im Westen haben erklärt, daß sie bei ihren angekündigten Beitragserhöhungen bleiben werden. Und die belasten eben nicht Pharmakonzerne und Ärzte, sondern die abhängig

Beschäftigten. Und auch da nicht die Besserverdienenden.

Wirksame und dauerhafte Konsolidierungseffekte hätte der Bundesgesundheitsminister erzielen können, wenn er z.B. die Beitragsbemessungsgrenzen aufgehoben hätte, oder wenn er tatsächlich eine Reform in Angriff genommen hätte, die zu einer Vereinheitlichung der Kassen und damit einem solidarischen Ausgleich zwischen Niedrig- und Besserverdienern beigetragen hätte. So bleibt es bei der für die Bundesrepublik so typischen sozialen Asymmetrie.

Die Regierungsparteien unterstellen einen wachsenden Mißbrauch der Krankenversicherung. Weil die Menschen nicht mehr direkt für die Aufwendung im Krankheitsfall aufkommen müßten, werde der Arzt zu häufig aufgesucht und oft unnötig auf teure Arzneien zurückgegriffen. Eine wirksame Kostenbegrenzung könne nur erreicht werden, indem die Selbstbeteiligung erhöht werde. Keine Frage, die neokonservativen Parteien sähen am liebsten die Auflösung der gesetzlichen Versicherungsleistungen.

Aber auch der erneute Schritt zur Ausweitung der Eigenbeteiligung der Patienten wird keine Lösung bringen. Seehofer selbst sieht das Instrumentarium der Kostendämpfung als „ausgeschöpft“ an und kündigt für die Sitzung der Konzertierten Aktion am 16. Juni bereits neue Erörterungen über die Systemreform an. Daß diese dann von neuen Gutachtergremien vorbereitet werden muß, deren Ergebnisse nach den Wahlen 1994 vorliegen werden, ist bei der überaus machtbewußten Bundesregierung selbstredend. Die jetzt beschlosse-

nen Maßnahmen taugen nicht mehr als zur Vertagung der Probleme.

Die Versorgung im Krankheitsfall gehört - neben Wohnen und der Ausbildung - zu den Bereichen, in denen auch in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften die Profitsteuerung versagt. Eine dauerhafte Reduktion der volkswirtschaftlichen Aufwendungen für die Gesundheitssicherung unterstellt den Übergang zu einer vorsorglichen Medizin. Die Gesundheitserziehung müßte verbessert werden. Und vor allem müßten in den Bereichen von Arbeitsmedizin und ökologischer Verträglichkeit von Arbeits- und Lebensbedingungen Schwerpunkte gesetzt werden: SPD^Sozialpolitiker Schreiner summiert „die jährliche Belastung hauptsächlich der Kranken- und der Rentenversicherung in den alten Bundesländern allein durch arbeitsbedingte Krankheiten und Unfälle auf 88 Milliarden DM“

Wenn heute nur noch ein Drittel der Beschäftigten gesund das Rentenalter erreicht, braucht man kein Gesundheitsexperte zu sein um zu sehen, wo Handlungsbedarf angezeigt ist. Zudem müßte das Verhältnis von ambulanter und stationärer ärztlicher Versorgung geändert werden. Die Polikliniken hätten sehr wohl einen entsprechenden Veränderungsansatz ermöglicht. Die Versuche, mit Honorarbeschränkungen und Zulassungssperren für Ärzte und sanftem Druck auf die Pharmaindustrie weiterzuwursteln, sind zum Scheitern verurteilt. Nur um den Preis einer anhaltenden Kostenexplosion bei gleichzeitiger Verschlechterung der Krankenversorgung kann eine grundlegende Reform vertagt werden.