nd-aktuell.de / 15.06.1992 / Kommentare / Seite 2

Folgt auf den heißen Mai ein heißer Sommer?

Heute wird sich ÖTV-Chefin Monika Wulf-Mathies in die Tarifverhandlungen für die 1,4 Millionen ostdeutschen Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes einschalten. Bisher rückte und rührte sich nichts. Die Arbeitnehmer erhielten kein Angebot. Vielleicht legt Innenminister Seiters, der die Verhandlungen auch nicht mehr den Stellvertretern überlassen will, eines auf den Tisch. Er möchte doch halbwegs zufrieden in die Sommerpause gehen. Und der ÖTV steht ihr 12. Kongreß ab 19. Juni ins Haus.

Der Tarifpoker um das ostdeutsche öffentliche Salär scheint au-ßer die Betroffenen nur wenige zu interessieren. Kurze Nachrichten in den Medien und eine Abmahnung von Demonstranten wegen Unhöflichkeit - nichts weiter. Protestaktionen in einigen Ländern hatten den öffentlichen Arbeitgebern bedeutet, daß sich auch die Ost-Bediensteten nicht alles gefallen lassen werden. Wenn man die Aufregung im Vorfeld der Verhandlungen um die Westtarife im

öffentlichen Dienst bedenkt, könnte man an der gegenwärtigen Reaktion die Wichtung der ostdeutschen Probleme ablesen.

Die DGB-Gewerkschaft ÖTV und auch die unter Leitung der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) stehende Tarifgemeinschaft fordern einen kräftigen Schritt in Richtung auf die vollständige Angleichung an das Westniveau, zugleich Erhöhung der Ausbildungsvergütung und des Urlaubsgeldes und den Abschluß eines Sozialtarifvertrages. Die Tarifgemeinschaft verlangt auch einen genau festgelegten Stufenplan für die Angleichung, weiter die Übertragung der zusätzlichen Altersund Hinterbliebenenversorgung.

Dies ist nur recht und billig. Die Arbeiter und Angestellten des ostdeutsfchen öffentlichen Dienstes, von Ämtern über Gesundheitswesen, Bildung, Verkehrswesen bis zu Post, erhalten bis heute etwa 60 Prozent des Westtarifs, für gleichwertige Arbeit also weitaus weniger als ihre westdeutschen

Kollegen und inzwischen auch die Beschäftigten anderer Dienstleistungsbereiche. Die untersten Einkommensstufen der Arbeiter und der Angestellten bei Bund, Ländern und Gemeinden sowie im Pflegedienst bewegen sich zwischen 1 500 und 1 800 DM Brutto monatlich. Bei laufenden Preissteigerungen um 17 Prozent und weiterer drastischer Erhöhung der Lebenshaltungskosten wie der Mieten reicht ein Familieneinkommen längst nicht mehr aus. Es klingt wie Hohn, wenn das Berliner Arbeitsgericht die Klage einer im Westen der Stadt beschäftigten Ostberliner Postangestellten auf Bezahlung nach Westtarif abwies. Weil man im Osten billiger lebt.

Seit dem ersten Tag der deutschen Einheit haben Politiker eine funktionierende Verwaltung angemahnt, auch heute wird als eine der Hauptursachen für die zögernde Investitionsbereitschaft der Wirtschaft mangelnde Infrastruktur und schleppende Verwaltung in Ostdeutschland vorgeschoben.

die aus 40 Jahren Nationaler DDR-Front hervorgegangen „freiheitlich-demokratisch“ gewählten Regierenden in Stadt und Land Ostelbiens ist. Wenn aber in der Gemeinde wie auch im geeinten Deutschland das Vertrauen in die Entscheidungsbefugnis der Politiker so gering ist, möchte man ja fast rufen: „Nichtparlamentarier aller Länder, vereinigt Euch!“

Dr. Ulrike Bretschneider, Burgstädt, 9112