nd-aktuell.de / 15.06.1992 / Politik / Seite 5

Föderation oder Trennung – Zuspitzung statt Kompromiß

JAROSLAVPOLIVKA, Prag

Hassen Tschechen und Slowaken einander? Zumindest im Ausland scheinen daran nur noch wenige zu zweifeln. Zu bestürzend sind die Nachrichten aus einem Land, in dem noch vor drei Jahren gepflegte, realsozialistische Langeweile herrschte. Immer besorgter werden die Fragen, ob es hier etwa so werden könne wie im ehemaligen Jugoslawien oder in der GUS.

Hiesige Politiker malen dabei kräftig mit an eventuellen Horrorszenarien. Der tschechische Konservative Jan Kalvoda erklärte der BBC, es gehöre hier zwar nicht zum guten politischen Ton, die jugoslawische Variante zu erörtern, aber ausschließen könne man sie nicht. Der slowakische Nationalist Jozef Prokes versicherte einem anderen Reporter, die Slowakei jedenfalls werde den Krieg nicht anfangen.

Der kühle Vaclav Klaus ist den Slowaken die Inkarnation zentralistischer Prager Überheblichkeit, und der Ex-Boxer Vladimir Meciar bestätigt den Tschechen mit seiner zuweilen rüden Art, was sie schon immer über ihr kleines Brudervolk wußten: daß ihm nämlich noch immer die Zivilisation abgeht. In Westeuropa fragt man sich fassungslos, was in die beiden Völker gefahren ist, denen man bestenfalls soviel Aggressivität wie dem braven Soldaten Schwejk zugetraut hatte. Daß der kein Slowake war, spielt dabei keine Rolle.

Doch so verwunderlich ist die Lage eigentlich nicht. In völkerrechtlicher Ehe leben Tschechen und-Slowaken erst seit 1918, bis dahin war das slowakische Schicksal stets enger mit dem ungarischen verknüpft, wovon bis heute die weit über eine halbe Million Köpfe zählende ungarische Minderheit (bei etwa 4,5 Millionen Slowaken) in der Slowakischen Republik zeugt. Die Slowakei ist in diese Ehe als die kleinere und schwächere Braut gegangen - und daran hat sich bis heute nicht grundsätzlich etwas geändert.

In den 20er Jahren, also schon in der ersten Tschechoslowakischen

Republik, hatte die Slowakei nach Irland die prozentual größte Emigration in Europa. Die Verhältnisse waren eben so. Zur gleichen Zeit entwickelten sich Böhmen und Mähren zu einem hochproduktiven Gebiet, dessen Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt in den 30er Jahren das Deutschlands überstieg.

Damals wurde jener Pragozentrismus geboren, der heute so viele Probleme macht. In der fernen Hauptstadt wurden die Geschicke des Landes entschieden, ohne daß man sich - das war jedenfalls der Eindruck der Betroffenen - um die Slowaken kümmerte. Dann kamen Hitler, das Protektorat Böhmen und Mähren sowie der Staat Slowakei - von des Führers Gnaden, aber immerhin das erste eigene

staatliche Gebilde der Slowaken. Deshalb tut sich mancher heute in der Slowakei mit seiner historischen Einschätzung schwer.

Nach dem Krieg ging es unter kommunistischer Führung weiter im unitaren Staat. Die Slowakei blieb zunächst im Nachtrab. Das änderte sich nach dem Prager Frühling von 1968. Mit Dubcek kam der erste Slowake an die Spitze der Partei, sein Nachfolger Husäk war wieder einer. Noch nach der Niederschlagung des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ gab es zumindestens ein konkretes Ergebnis: die Bildung der Föderation 1969. Die Slowakei wurde verstärkt industriell entwickelt. Freilich wuchsen da vor allem Zweige, die heute viele Sorgen haben: Waf-

fenfabriken, Hüttenwerke und chemische Giganten, die ohne ökologische Rücksichten aus dem Boden gestampft wurden.

Immerhin gelang es in dieser Zeit, den Abstand zwischen den beiden Republiken zu verringern, wozu erheblich beitrug, daß Mittel aus dem tschechischen Teil in die Slowakei umgelenkt wurden. Der sogenannte „Solidarbeitrag“ ist im Staatshaushalt zur festen Größe geworden. Dennoch bleibt die Slowakei verwundbarer, wie sich nun zeigt. Den Übergang zur Marktwirtschaft bezahlt sie bereits mit einer fast viermal höheren Arbeitslosenrate als der tschechische Teil.

Zur Zeit der Wende 1989 war selbst Vladimir Meciar noch ein

glühender Föderalist. Doch die Wirtschaftsreform, von tschechischen Konservativen wie Vaclav Klaus und Vladimir Dlouhy konzipiert und durchgesetzt, zeigte Wirkung. Zum einen war sie den Slowaken wieder Beweis für Prago-' zentrismus, zum anderen entstand der Eindruck, hier werde auf ihre Kosten das Land saniert. Das mag falsch sein, aber damit muß rechnen, wer heute hier realistisch Politik machen will. Die tschechischen Konservativen neigen aber offenbar eher dazu, das slowakische Problem loszuwerden, indem sie nur die Alternative lassen: Föderation oder Trennung. Ohne Kompromisse wird es jedoch kaum gehen. Das zeigen gerade Jugoslawien und die GUS..