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  • Brandenburg
  • Nachdenken über Geschichte in der Kneipe „Über den Linden“

Eine Speise-Akte mit Krenz und Salat

  • Lesedauer: 3 Min.

Der „Operative Vorgang: Essen in der „Speise-Akte“ enthält Schnitzel, Rostbratwurst, Erbsensuppe, Wiener Würstchen, Bulette wahlweise mit Bratkartoffeln oder Salat. Ich bestelle eine Bulette ohne alles, ein alkoholfreies Bier und setze mich an einen Dreiertisch zu Egon Rrenz und Ernst Thälmann. Krenz als Foto, Thälmann als Büste.

Ich hätte auch ein Ragout Fin wählen und mich zu Manfred Gerlach (Foto) und dem Wimpel „Für hervorragende Leistungen“ setzen können. Freie Wahl für freie Bürger, und der Kunde ist König. Oder Interviewpartner eines Fernsehteams, einer Zeitschrift, einer Rundfunkstation. Denn diese sind nicht gerade selten im musealen Klub der „Gesellschaft zur Sammlung und zum Studium von Kulturund Geschichtsgut der ehemaligen DDR e.V.“, den Renaldo Tolksdörfer (30) „Über den Linden“ in der 5. Etage der durch die Treuhand kassierten Immobilie im „Haus der Jugend“ Unter den Linden 36 bis 38 führt.

Deutsche, aber auch österreichische, italienische, britische Fernsehanstalten filmten vor Ort das wohl selbst im ehemaligen Zentralrat der FDJ nicht so komprimiert anzutreffende Ambiente des Klubs. Ausgestaltet mit einstmals mehr oder weniger gefragten Porträts, Büsten, Wimpeln, Plakaten, Orden

und Ehrenzeichen, Fahnen, Trommeln, Fanfaren, Urkunden und Sprüchen.

Einer der ersten in der DDR produzierten Fernsehapparate (Wilhelm Pieck schenkte ihn der Pionierrepublik am Werbellinsee), alte Staubsauger, landestypische ,Waren des täglichen Bedarfs' findet man ebenso wie Chroniken aus Pionierlagern oder einen Teddybär in NVA-Uniform, der so manches Festival erlebte.

Das einstige Standard-Color-Foto des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik hängt in einem Nebenraum über Bierkästen, versehen mit dem Hinweis: heute Küchendienst.

„Sicher ist ein solches outfit nicht jedermanns Geschmack“, räumt Renaldo Tolksdörfer ein, „aber wir wollen unsere Gäste zum Nachdenken und zu einer differenzierten Geschichtsbetrachtung anregen. In der Regel sind dies weniger unsere täglichen Gäste von den im Haus ansässigen Jugendverbänden, sondern eher Zufallskundschaft, die sich aus dem regen Publikumsverkehr im Haus ergibt.

Zu uns kommen Neugierige aus aller Herren Länder. Und Mitarbeiter der Treuhand-Anstalt, die im ersten Stock des Hauses eine

Abteilung einquartiert hat. Nicht zu vergessen eine Reihe von Journalisten. Mehr als dreißig Redaktionen haben schon über uns berichtet. Das große Interesse der Öffentlichkeit bestärkt uns in der Idee, ein Museum für Zeitzeugnisse zur Geschichte der DDR einzurichten.“

Nicht an eine nostalgische Stätte ist dabei gedacht, vielmehr geht es zunächst um die Sammlung und Sicherung „realer Gegenstände aus dem real existierenden Sozialismus in den Farben der DDR“. „Wir brauchen dazu die Unterstützung vieler Bürger der ehemaligen DDR, ihre Bereitschaft, uns Gegenstände zur Verfügung zu stellen.“

Darüber hinaus bedarf es eines geeigneten Gebäudes auf sicherem Grundstück. Daß Renäldo Tolksdörfer auch den Palast der Republik kaufen würde, könnte man ihm zutrauen. Ob er ihn aber für eine DM, die er dafür bietet, erhält, ist fraglich. Scherzend verweist er auf den Kaufpreis für die „Neue Heimat“. „Ich ulke gern, doch die Idee für dieses Museum ist durchaus ernstgemeint. Dort wäre dann auch Platz für Denkmale, die sonst in der Kiesgrube oder in einem württembergischen Millionärs-Garten landen. Man kann Geschichte nicht einfach auf den Müll werfen und entsorgen.“

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