nd-aktuell.de / 15.06.1992 / Politik / Seite 9

Es geht uns um eine Analyse dieses Apparats

Wem wollen Sie Ihr Wissen anbieten? Denen, die Opfer Ihrer Tätigkeit geworden sind, dem Verfassungsschutz oder den Politikern?

J. Seidel: Natürlich der politischen Öffentlichkeit. Dieses Komitee kann nicht stellvertretend versuchen, sich bei Opfern zu entschuldigen. Es geht uns um eine Analyse der Mechanismen dieses Sicherheitsapparates. Warum wurden Leute inhaftiert, ausgewiesen, warum entwickelte sich dieser Apparat so und nicht anders? Wir wollen gegen den Mythos antreten, daß die einen der Staat waren und die anderen nicht. Da genügt es nicht, wenn ehemalige Mitarbeiter des

MfS sich beteiligen. Die DDR hat nicht nur aus dem MfS bestanden. Das klingt nun aber wirklich entschuldigend, so unter dem Motto, alle waren der Staat. Ein Teil der Menschen hat sich diesem Staat verweigert. Nicht jeder hat Andersdenkende bespitzelt...

J. Seidel: Das ist Schubkastendenken. Es genügt nicht zu sagen, der hat dort gearbeitet und ist deshalb schuldig. Es kann nicht ausbleiben, daß über Schuld und Unschuld gesprochen wird. Sie schreiben in Ihren Thesen, schuldig ist, wer gegen das Rechtssystem der DDR verstoßen hat. Genügt denn das als Kriterium?

K. Eichner: Ich denke, es geht hier eher um Verantwortung. Jeder, der beim MfS gearbeitet hat, trägt Verantwortung für die Entwicklung in der DDR. Das muß ich unterscheiden von Schuld im juristischen Sinne, und da wiederum kann der Maßstab nur das Rechtssystem der DDR sein. Verantwortung aber kann nicht in einem Prozeß nachgewiesen werden. Zur Zeit dreht sich beim Thema Stasi alles um die Akten. Sie werden zum Maßstab bei der Bewertung von Menschen gemacht. Welchen Wert haben denn aus „Insider“-Sicht die Akten?

J. Seidel: Da muß man unterscheiden: Das sind einmal die Akten, wo inoffizielle Berichte drinstehen, also IM-Akten. Und dann sind da die Vorgangsakten, in denen Leute oder Sachverhalte bearbeitet worden sind. Die muß man dazunehmen, sonst reißt man einfach etwas raus, ohne zu fragen: Was steckte hinter dem IM-Bericht, welche Motivation liegt dem zugrunde? Man muß doch mal fragen, warum hat er sich bereiterklärt, für das MfS zu arbeiten? Es ist ja nicht so, wie oft unterstellt wird, daß sie alle unter Druck standen. Der geringste Teil ist unter Druck geworben worden. Die Mehrheit ist es aus Überzeugung geworden. Man muß auch nach den Motivationen der Inoffiziellen und ihren seelischen Probleme, die sie

teilweise dabei hatten, fragen. Sonst hat die Akte keinen Zweck.

Die Vorgänge in den Akten sind teilweise völlig entstellt; einmal durch die Mitarbeiter selbst, weil wir viele Dinge rausgerissen haben. Und teilweise hat der Geheimdienst der Bundesrepublik, haben aber auch andere Geheimdienste inzwischen so darin gewütet, daß vieles nicht mehr vorhanden ist.