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  • Brandenburg
  • Im Ausländerwohnheim in der Fürstenwalder Allee ist Hilfe gefragt

Serben und Kroaten friedlich unter einem Dach

  • Hans Iacobu
  • Lesedauer: 4 Min.

Als ich in das Ausländerwohnheim in der Fürstenwalder Allee 470 kam - ein weiteres befindet sich in der Rennbahnstraße in Weißensee -, war das Münztelefon belagert: Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien versuchten mühselig, jemanden von ihren zurückgebliebenen Angehörigen zu erreichen. 570 Personen aus zwölf Nationalitäten leben jetzt in diesem ursprünglich für 450 Personen vorgesehenen Heim in Berlin. Zunächst waren es über hundert russische Juden, die vor der Pogromstimmung flüchteten, dann kamen Afrikaner, auch Libanesen. Jetzt also die Züge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Flüchtlinge aller Völkerschaften dieses brennenden und in sich zusammenfallenden Landes. Sie kamen aus Bosnien und dem Kosovo. Da sind Roma und Albaner. Und die sich im Lande bis aufs Messer bekriegen, serbische und kroatische Flüchtlinge, viele Frauen darunter, über 200 Kinder jeder Altersgruppe, leben hier miteinander friedlich unter einem Dach.

Drei Kinder wurden hier bereits geboren, zwei schwangere Frauen sind im Heim untergebracht. 70 Kinder gehen schon in die umliegenden Schulen, zwei Betreuerin-

nen halten den Kontakt mit denen, die kein Deutsch können und Vorbereitungsgruppen besuchen. Manche integrieren sich schneller, alle werden auf Klassen aufgeteilt. Und hier beginnt schon der Appell an die Leser: Es sind gute Schulranzen gefragt, Hefte, Schreibzeug, alles, was man für die ersten Schuljahre braucht.

200 Flüchtlinge sind Moslems sie sind es gewohnt, auf dem Teppich zu sitzen und von dem daraufgelegten Tischtuch zu essen. Ständig waschen sie ihre Teppiche draußen vor den Häusern. Aber es wird Herbst, es wird kälter. Sie müßten einige Staubsauger für ihre Teppiche haben.

Auch gute Kinderwagen und Ba-Ijykörbchen wären wichtig, denn die Flüchtlinge haben oft drei bis vier, manchmal sieben Kinder. Die meisten Mütter sind alleinstehend, Spielzeug für ihre Kleinen könnten sie gebrauchen, auch Kindermöbel. Und natürlich Kleidung für die bevorstehenden kühleren Tage. Fast alle kamen nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen.

Auch die seelische Not ist groß. Keiner weiß, ob die Männer, die Väter noch leben, wo sie sind: Da

ist eine Frau mit ihren Kindern, der zu Hause das über viele Jahre aus Erspartem gebaute Haus abgebrannt ist. Da verkörpert eine Familie vier Generationen, aus einem brennenden Kinderheim in Sarajevo sind sie geflüchtet. Eine verstörte Ärztin mit ihren Kindern kann noch nicht verkraften, was sie an Schrecklichem erlebt hat. Eine bosnische Frau sucht ihren kroatischen Mann, auch die mit einem jugoslawischen Juden verheiratete Tochter isi^ verschollen. Versprengte Familien, die unsägliches Leid ertrugen - es ist schwer zu beschreiben.

Wäre da nicht die nimmermüde Leiterin Frau Dr. Baier, die viele Jahre Kindergärtnerinnen ausgebildet hatte, wäre da nicht ihre vielstündige, tagtägliche selbstlose Arbeit des Zuhörens und Helfens, wäre da nicht die ausgezeichnete Leitung der Arbeiterwohlfahrt Wedding, die Herr Renner gütig und erfahren vermittelt - hunderte von Menschen würden hier am Rande Berlins mit all ihren Sorgen kaum so etwas wie Geborgenheit fühlen können.

Ich muß auch die Kindergärtnerinnen nennen, die ihrer ehemali-

gen Lehrerin mit Fibeln der ersten Klasse für die Erwachsenen oder Kindermöbeln halfen. Oder die zwölf Zivildienstleistenden, die renovieren, schweißen, übersetzen, Fragen beantworten. Da ist auch das Bürgerkomitee am Ort, es lädt Kinder ein, unterstützt kleine Feste im Lager, steht zur Verfügung.

Das alles mag manchem profan klingen, alltäglich; aber Solidarität ist für viele offenkundig kein hohles Wort, darf es auch nicht sein in dieser bewegten Zeit. Deshalb ist dies zugleich ein Appell: Hilfe jeglicher Art ist gefragt, wie sie schon seit langem der Jüdische Kulturverein den geflüchteten russischen Juden zuteil werden läßt. Sprachkundige, handwerklich Begabte, auch Helfer, die die benötigten Sachen zur Fürstenwalder Allee 470 bringen, das und eigene Ideen wären hilfreich in diesen Tagen.

Als ich das Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt in der Fürstenwalder Allee wieder verließ, war das Telefon immer noch belagert - wer von den Angehörigen wird sich vielleicht melden? Wer mag in der fernen brennenden Heimat noch am Leben sein?

HANS JACOBUS

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