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  • Kultur
  • Sonderausstellung „Malerei und Plastik“ im Brücke-Museum

Die Rückkehr der Wilden

  • Lesedauer: 4 Min.

Ernst Ludwig Kirchner: Sitzendes nacktes Mädchen, 1912/13, Kohle auf Papier

Abbildung: Katalog

Sein 25. Jubliäum in diesem Jahr war dem Brücke-Museum in Dahlem willkommener Anlaß, seine Schätze auszubreiten, zunächst Zeichnungen und Aquarelle der Künstlergruppe „Brücke“, später ihre Druckgraphiken. Die eigentliche Attraktion des Hauses, die Gemäldesammlung, wurde derweil auf Reisen geschickt. Inzwischen hängen die rund 80 Bilder wieder an ihrem angestammten Ort. Mit Malerei und Plastik beschließt das Museum den dreiteiligen Ausstellungszyklus.

Den Grundstock für die Sammlung des Brücke-Museums bildete eine umfangreiche Schenkung Schmidt-Rottluffs 1964 an den Berliner Senat, die mit der Forderung verbunden war, ein geeignetes Domizil zur Verfügung zu stellen. Daraufhin erhielt Werner Düttmann, seines Zeichens Westberliner Stararchitekt (von ihm stammen unter anderem die Deutsche Oper und die Hochhaussiedlung an der Ecke Gitsphiner Straße/Lindenstraße) den Auftrag, einen kleinen Museumsbau zu errichten, der die sechzig Gemälde und ein Konvolut von Graphiken aufnehmen sollte. Düttmann entwarf einen nahezu quadratischen Flachbau um einen atriumartigen Innenhof herum, dessen fließend ineinander übergehende Räume durch großzügige Glasfronten und raffiniert in die Decke eingelassene Oberlichter beleuchtet werden. Das Ergebnis überzeugt noch immer, obwohl sich heute für manche der dicht gedrängt hängenden Bilder mehr Platz wünschen ließe.

Davon einmal abgesehen, gewährt der stetig erweiterte Bestand des Museums einen Überblick über alle Schaffensperioderuder Brücke-Maler. Acht Jahre lang bestand die 1905 von

Erich Heckel, Fritz Bleyl, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff in Dresden gegründete Künstlergrupe „Die Brücke“. Um 1910 verlegten die vier ehemaligen Architekturstudenten, zu denen später noch Max Pechstein, Emil Nolde, Cuno Amiet und Otto Müller stießen, ihren Wohnsitz nach Berlin, 1913 trennte sich die Gruppe wieder.

Ihre Malerei war ein Anschlag auf den Geschmack des wilhelminischen Publikums. Grelle Farben, kantige Pinselstriche und gekonnt verzerrte Perspektiven lösten heftige Kontroversen aus. „Negerkunst“ oder „Auswüchse von Geisteskranken“ lauteten damals die Urteile bei der etablierten Kritik. Sogar Maler wie Max Liebermann, der eine Dekade zuvor selbst den Aufstand gegen die herrschende Kunstdoktrin geprobt hatte, lehnten die impulsiven Ausdrucksformen der jungen Generation als zu grobschlächtig und unrealistisch ab. Für die Brücke-Künstler hingegen zählte allein die in Bild oder Skulptur umgesetzte subjektive, emotionale Wahrnehmung. Ihre Motive fanden sie sowohl in der Großstadt als auch auf dem Land. An der Millionenstadt Berlin faszinierte sie die nervöse Geschäftigkeit mit all ihren Verheißungen und Sehnsüchten, in der Hinwendung zur Natur äußerte sich der Wunsch nach einem harmonischen, von bürgerlichen Konventionen befreiten Dasein. 1933 waren die Maler der „Brücke“ unter den ersten, deren Werke von den Nazis als „entartet“ abgestempelt und aus den Museen verbannt wurden.

Von den Anfängen nach Art der Pariser „Fauves“ über die Blütezeit von 1909/15 bis zu dem für die Expressionisten typischen, romantisierenden Verflachen in der künstlerischen Spätphase dokumentiert die Sammlung inzwischen jede Entwicklungsstufe. Fünf Neuerwerbungen, zwei Gemälde von Schmidt-Rottluff, zwei von Pechstein und eins von Mueller, werden in der Sonderausstellung zum ersten Mal der Öffentlichkeit gezeigt. Höhepunkte sind zweifelsohne Kirchners „Straßenszene“ von 1913, „Im Cafegarten“ von 1914, Heckeis „Mellingburger Alsterschleuse“ (1913) oder Otto Muellers beide großformatige „Badende Mädchen“ (1921). Ergänzt wird der Eindruck durch einige Holzskulpturen, wie der „Trauernden“ von Schmidt-Rottluff oder Kirchners klobigen Stuhl, aus einem einzigen Stück Holz gefertigt.

Zwar ist die Stärke des Brücke-Museums gleichzeitig auch eine seiner Schwächen: die Sammlung konzentriert sich ausschließlich auf Brücke-Mitglieder, so daß die Vergleichsmöglichkeit mit anderen Vertretern der klassischen Moderne fehlt, und weder die unmittelbare Nachfolge noch die Wiederaufnahme expressiver Artikulation in Ost und West Anfang der 80er Jahre kommen zum Zug. Doch lohnt ein Besuch des nun endlich wieder nach Berlin zurückgekehrten Gemäldebestandes - zumal das versteckt in einer Wohnstraße am Grunewald gelegene Haus als das schönste der Berliner Museen gilt. ULRICH CLEWING

Brücke-Museum, Bussardsteig 9, Dahlem: Malerei und Plastik der Brücke. Bis 4. April 1993, Mi-Mo 11-17 Uhr.

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