nd-aktuell.de / 21.08.1992 / Kultur / Seite 10

Die freie Bewegung des Rausches

Modrig liegt die Bühne vor uns, eine vergilbte Fotografie der ganze Raum. Bleiern lastet die Ruhe. Plötzlich ein Ziehen und Zerren, hetzend stürzen sich die „Kräfte“ August Stramms auf das Publikum. Bedingunslos fühlt man sich dem prallen Bühnenleben ausgeliefert, findet sich in den Schlund des Spiels hineingerissen. Etwas unbestimmbares kribbelt sich in die Zuschauer hinein, beginnt zu bohren, explodiert auflodernd: Lebendigkeit.

Das „Walser Ensemble“ verläßt in der Regie von Ulrich Simontowitz den Rahmen der dramtisierenden Theatererzählung. Sie (Nela Bartsch), Er (Jürgen Wink), die Freundin (Eva Mannschott) und der Freund (Viktor Schefe) lassen ihre Körper durch die weiten Räume ihrer eigenen Schizophrenien taumeln. Es findet kein Figurenspiel statt, vielmehr kehrt das Spiei zu seinem Urgrund, zum Rausch zurück und das Publikum muß folgen. Aus der Bewegung der Schauspieler heraus wird der Zuschauer genommen, doch nicht um ihn in der Bühnenwirklichkeit festzusetzen, sondern um ihn auf seine eigenen Zustände zurückzuwerfen, ihn das Pochen seines Blutes hören zu lassen. Der Rausch, die Extase ist das Erschauern in der fremden Lust, die endlich anzunehmen, wir in der Lage sein sollten. Die Geschichte auf der Bühne ist die Bewegung. Worte werden eingesprengt. Gegenseitig eröffnen sich Körper und Wort, Räume, aus denen sie Bilder zaubern. Simontowitz ist dabei nicht angewiesen auf die ästhetisierende Emphase der (post)modernen Kulturschickeria. Einfache Materialien - Worte, Körper, Licht und Musik - verdichten sich zu rasenden Kraftfeldern, die Energie aufsaugen, um gleichzeitig ein Mehrfaches in das Publikum und in das eigene Spiel hinauszu-

schleudern. Sie und Er, Freundin und Freund, jeder flackert gegen jeden und in sich. Wohin die Flammen schlagen werden, wohin sie genau in dieser Minute schlagen, ist ein Element des Zufalls^ Die Bewegung des Zufalls ist der Rausch. Zuviel Leben ist darin, als das man es aushalten könnte, und erfährt man es, pflanzt sich die Sehnsucht nach der Einheit, nach Ruhe tief in den Körper ein. Wie aber soll sich diese Einheit einlösen, hat man einmal das Leben geschmeckt? In diesem Stück tötet sie am Schluß alle anderen und sich selbst. Der gemeinsame Rausch erstarrt erneut in der vergilbten Fotografie. Nur unsere Bilder sitzen still, sind sich gleich, sind unsere Totenmasken, wie uns Simontowitz schon vor Beginn des Theaters mit einer Videocollage verschiedener Medienbilder andeutete.

Die „Kräfte“-Version des „Walser-Ensembles“ ist nicht nur die freie Bewegung des Rausches. Gerahmt findet sich der Zufall von einer Geschichte Stanislaw Lems „Winzlieb und Gigelanz“. Die künstliche Intelligenz (Sabine Vitua) beleuchtet uns Untergang der Vor- und die Entstehung der Nachwelt, zeichnet die rationale Erschlaffung der Welt als Gegensatz, von der sich das Leben nur um so mehr abhebt.

Weit über die Tristesse sonstigen Offs gelang aus dem hervorragenden Einsatz von Körper und Wort durch die Schauspieler, unterstützt und bildlich ausgebaut durch das Lichtdesign (Martin Oestreich), das Bühnenbild (Peter Koch) und das Kostümbild (Stephan Dietrich) ein Stück Theater, das man sich nicht entgehen lassen sollte. MARIO STUMPFE

Freitags bis montags jeweils um 21 Uhr im Ensemble Theater am Südstern, Hasenheide 54, Kreuzberg, Tel. 692 32 39