nd-aktuell.de / 21.08.1992 / Wissen / Seite 15

Benachteiligung des „Beitrittsgebiets“

Nehmen wir das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten: Von Verhandlungen auf der Basis der Gleichberechtigung der BRD und der DDR kann nicht die Rede sein. Der EV ist nach Form und Inhalt ein Diktat des Siegers über die Bedingungen des Beitritts. Im Grunde hat die Bonner Regierung damals ein Bundesgesetz über den Anschluß der DDR vorbereitet und diesem Gesetz durch Beiziehung einer willfährigen Delegation sowie Einholung der Unterschrift und der parlamentarischen Zustimmung des Besiegten die äußere Hülle eines Vertrags zwischen zwei Staaten gegeben. Ein ungleicher Vertrag mit einem am Boden lie-

genden Staat, der immerhin noch Mitglied der UNO war und dem alle der Souveränität innewohnenden Rechte zustanden.

Der EV enthält natürlich auch vernünftige Übergangsregelungen und sachgerechte Bestimmungen, deren Einhaltung und objektive Auslegung man fordern muß. Aber geprägt wird er von der Benachteiligung des „Beitrittsgebiets“ und seiner Bewohner. Selbst die vom Grundgesetz gewollte Folge des Beitritts nach Art. 23, nämlich das Inkrafttreten des Grundgesetzes im „Beitrittsgebiet“, wird willkürlich blockiert, und zwar zu Lasten der ehemaligen DDR und ihrer Bürger. In den neuen Bundesländern und in Ostberlin gilt nach Art. 3 EV das Grundgesetz nur, „soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt wird.“ Abweichungen vom Grundgesetz werden Art. 4 EV ausdrücklich sanktioniert.

Oder das Prinzip der allgemeinen Achtung und Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle: Die Fortschritte auf diesem Gebiet hat den Ostdeutschen nicht der EV beschert; sie waren schon vorher erkämpft worden. Der EV hatte die schwerwiegende und massenhafte Mißachtung und Verletzung grundlegender Menschenrechte, wie sie in den zwei Internationalen Pakten über bürger-

liche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1956 verankert sind, zur Folge, z.B. des Rechts auf Arbeit. Die ehemaligen DDR-Bürger wurden offiziell in den Status einer nicht gleichberechtigten und nicht ausreichend geschützten Minderheit gedrängt.