nd-aktuell.de / 25.06.2003 / Kultur

Nichts für Arkadier

Berliner Erstaufführung von Ligetis »Le grand macabre«

Friedemann Kluge
Folgt man der Selbsteinschätzung des Komponisten, dann hat ihm die Komische Oper mit dem verspäteten Geschenk zu seinem 80. Geburtstag am 28. Mai keine wirkliche Freude bereitet: Er selbst hält seine Oper »Le grand macabre« für wenig geglückt. »Das Stück ist irgendwie nicht meine Welt. Es war auch ein Irrweg«, verrät er seinem Interviewpartner in dem Buch »Träumen Sie in Farbe? György Ligeti im Gespräch mit Eckhard Roelcke« (Zsolnay. 240S., geb., 19,90). Bemerkenswerte Selbstkritik oder Koketterie? Immerhin sind Musikwissenschaft und Publikum sich darin einig, dass Ligetis Kompositionen sich durch üppige Sinnlichkeit ebenso auszeichnen wie durch höchst inspirierte Farbgebung. Seine Werke »Poème symphonique für 100 Metronome« (1962), »Lontano« (1967) oder eben »Le grand macabre« (1977 bzw. 1996) gelten als Meilensteine der Musik des 20. Jahrhunderts. Berlin feiert den silberhaarigen Ungarn aus Siebenbürgen mit den klugen Augen, der nach dem Ungarnaufstand von 1956 zunächst in Köln sesshaft wurde und heute in Hamburg lebt, mit einer Premiere und zwei Ausstellungen, deren eine im Foyer der Komischen Oper, die andere im Gebäude der Ungarischen Botschaft in Berlin zu betrachten ist: Hier präsentiert der Künstler István Nádler seine »Hommage an György Ligeti«. Man fühlt sich an den ebenfalls achtzigjährigen Falieri in E.T.A. Hoffmanns »Serapionsbrüdern« erinnert, dem von seinem Gesprächspartner Bodoeri vorgehalten wird: »Trägst du dein Haupt nicht so aufrecht, gehst du nicht mit solchem festen Schritt einher wie vor vierzig Sommern?« Sein Haupt aufrecht tragen: das scheint auch stets die stille Devise des Komponisten gewesen zu sein, auch eine Überlebensstrategie damals, 1944, als Jude im Arbeitsdienst der faschistischen ungarischen Armee. Sein Haupt aufrecht tragen: Das beinhaltet aber manchmal auch eine gewisse Dickschädeligkeit, die seinerzeit, 1993, zu jenem Zerwürfnis mit Walter Jens führte, wie es in seiner Heftigkeit nur Menschen von einer sehr engen Wesensverwandtschaft widerfahren kann. Ligetis »Anti-Antioper« »Le grand macabre« zeichnet die symbolistische Farce des flämischen Autors Michel de Ghelderode mit musikalischen Mitteln nach. Im Mittelpunkt steht die Idee eines »tragikomischen, ganz übertrieben schrecklichen und doch nicht wirklich gefährlichen "Jüngsten Gerichts"« (Ligeti), ein Weltuntergang, der von Nekrotzar (Martin Winkler) ebenso aktiv wie erfolglos betrieben wird. Der üppigen Vokalbesetzung (nicht weniger als 13 solistisch mehr oder weniger beschäftigte Sänger plus Chor) entspricht die des Orchesters (Leitung Matthias Foremny): Nicht einmal Wecker, Trillerpfeife oder Autohupe wurden ausgelassen. Die letzte Neuinszenierung an der Komischen Oper in der laufenden Spielzeit ist kein Stück für Arkadier oder andere sensible Ästheten: Da wird in ruppigster Weise herumgevögelt, gepinkelt, gefurzt, an Geschlechtsteilen gezerrt, ein Klo mit brauner Fäkaliensoße zum Überlaufen gebracht oder Leichenfledderei betrieben. Aber es gibt auch den Kontrast: Beispielsweise jenes an die legendäre »Tunisreise« von Macke, Klee und Moillet erinnernde, geradezu idyllisch wirkende Ensemble kleiner blauer Häuschen (Bühnenbild: Peter Corrigan) oder die auf einem mondartigen Gestirn herabschwebende, kniestrümpfige und daher höchst unerotische Venus (Akie Amou), die assoziativ eher Storms »Kleinen Häwelmann« heraufbeschwört. Aus den wie entfesselt agierenden Sängerdarstellern eine Person hervorzuheben, ist im Grunde genommen nicht fair, aber als primus inter pares haben wir denn doch Brian Galliford in der Rolle des Piet vom Fass ausgemacht: Seine geradezu akrobatische Stimmführung mit bruchlosen Übergängen aus Baritonlagen ins hohe Falsett wetteiferte mit einem komödiantischen Talent, das in Berlin vermutlich seinesgleichen sucht. Und der Premierenskandal? Alle Beteiligten, auch die Regie, wurden enthusiastisch gefeiert, und in die Bravorufe mischte sich kein einziges Buh. Und das ist in der Berliner Musiktheaterlandschaft fast schon wieder ein Skandal!