Die Vorfreude ist verflogen

Enttäuschung nach dem Gipfel von Thessaloniki

  • Martin Schwarz, Wien
  • Lesedauer: 4 Min.
Die fünf Staaten des westlichen Balkans hatten mehr vom EU-Gipfel in Thessaloniki am vergangenen Wochenende erwartet: Statt einen konkreten Fahrplan für die Erweiterung der EU nach Südosteuropa zu präsentieren, beschränkten sich die Vertreter der Union auf unverbindliche Höflichkeiten.
In den Staatskanzleien in Zagreb, Sarajevo, Belgrad, Skopje und Tirana waren zu Beginn dieser Woche Anzeichen politischen Katzenjammers zu bemerken: Mit großen Hoffnungen auf eine Beschleunigung ihrer EU-Beitrittsbemühungen waren die Staats- und Regierungschefs der fünf westlichen Balkanstaaten Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro, Mazedonien und Albanien nach Porto Carras gereist und hatten sich schließlich eine höfliche, aber bestimmte Abfuhr geholt. »Die Zukunft des Balkans liegt in der Europäischen Union«, heißt es in einer gemeinsamen Abschlusserklärung der Staatenlenker, doch »die Zukunft« ist bekanntlich ein weiter Begriff. Bundeskanzler Schröder sorgte für atmosphärische Entspannung, als er meinte, man könne den »Balkan nicht aus Europa ausschließen«. Aber in der politischen Substanz blieben die Ergebnisse des kontinentalen Gipfels für die Hoffenden mager. Die EU weigerte sich, den in die Union drängenden Staaten eine konkrete Perspektive für den Beginn von Beitrittsverhandlungen zu bieten, und verwies auf einige schwierige innere Probleme der fünf Staaten: Korruption und organisierte Kriminalität harrten vergeblich einer effektiven Bekämpfung, und das nicht ganz bedingungslose Bekenntnis einiger Balkanstaaten zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gilt ebenso als Hindernis für einen EU-Beitritt wie die Unklarheit darüber, ob ein mühsam gekitteter Staat wie Serbien und Montenegro überhaupt noch existiert, wenn denn ein EU-Beitritt in Frage kommt. »Es prallen hier zwei ganz gegensätzliche Welten aufeinander«, sagte Nicolas Whyte, Europa-Direktor der Brüsseler »International Crisis Group« im ND-Gespräch. »Die Balkanstaaten haben unrealistische Vorstellungen von ihren Chancen auf einen baldigen Beitritt und die EU hatte offensichtlich den Wunsch, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.« Wie unrealistisch die Vorstellungen in den Regierungsämtern zwischen Zagreb und Tirana sind, bewiesen Äußerungen vor dem Gipfel. Serbiens Premierminister Zoran Zivkovic sprach von der Möglichkeit eines Beitritts bis zum Jahre 2007, Kroatien hatte die gleichen Vorstellungen. Bosnien wiederum peilte das Jahr 2009 an, was Whyte als »völlig kranke Idee« bezeichnet. Albanien und Mazedonien hofften ebenfalls auf eine Beitrittsperspektive bis zum Jahr 2009 oder 2010. Am deutlichsten äußerte Mazedoniens Außenministerin Ilinka Mitreva hinterher ihre Enttäuschung. »Wir wollten auf dem Gipfel den Kandidatenstatus erhalten. Leider wurde daraus nichts. Wir wollten auch etwas über den Beitrittstermin hören, leider ohne Erfolg. Wir erwarteten, etwas über den Zugang zu den europäischen Fonds zu hören und wurden enttäuscht«, sagte sie auf einer Pressekonferenz vor mazedonischen Journalisten. In Kroatien gibt man sich kleinlauter: »Wir hoffen zwar noch immer auf einen Beitrittstermin im Jahre 2007, aber wenn die Union es so möchte, könnte es wohl auch eine Verzögerung um ein bis zwei Jahre geben«, räumte Regierungssprecherin Ivana Norisic gegenüber ND ein. Was politische Beobachter verzweifeln lässt, ist der Eindruck, dass den Balkanstaaten bei der Integration kaum Hilfestellung gewährt wird: »Korruption und organisierte Kriminalität sind jene Faktoren, die Europa am meisten betreffen, aber man hat den Balkanstaaten den Kampf gegen diese Angelegenheiten völlig überlassen und leistet kaum Assistenz«, sagt Nicolas Whyte. Dagegen würde er die Bedeutung des Bekenntnisses zum Strafgerichtshof in Den Haag nicht überbewerten: »Selbst wenn einige Staaten jetzt Separatabkommen über die Nichtauslieferung von USA-Staatsbürgern unterzeichnen, wird das alles wohl bis zu einer Südosterweiterung in sieben oder acht Jahren relativiert werden.« Kroatien etwa hat sich noch nicht entschieden, ob es dem Wunsch der USA entspricht oder nicht, immerhin aber sagt Regierungssprecherin Norisic, der Regierung sei »klar, dass es die EU-Integration komplizieren würde, wenn wir mit den USA einig werden«. Besonders für Kroatien wäre dies von Nachteil, weil das Land zweifellos die besten Voraussetzungen für einen baldigen EU-Beitritt mitbringt. Viel schwerer wiegende Problem hat Serbien und Montenegro: Milo Djukanovic, Premier Montenegros, meinte nach dem Gipfel, ein Referendum über die Unabhängigkeit der kleineren Teilrepublik würde eine EU-Integration nicht behindern. Glaubt man in Brüssel mittlerweile selbst nicht mehr daran, dass der Staatenbund noch existiert, wenn es zum EU-Beitritt kommt? Für die EU ergibt sich ein Dilemma: Wendet sie sich vom Balkan ab, wird das die Staaten nicht gewiss stabilisieren, beschleunigt sie aber die Integration, handelt sie sich Beitrittskandidaten ein, die aufgrund ihrer inneren Probleme das starre politische Korsett der Union schwer beschädigen könnten.
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