nd-aktuell.de / 04.11.1992 / Politik / Seite 5

Über Mielke nun kein einziges Wort

Westhrmen machen das Rennen im Thüringer Großhandel

Nun endlich wissen wir's: Die DDR war nicht nur kein antifaschistischer Staat, sondern zu großen Teilen von alten Nazis beherrscht. Herausgefunden hat das Patricia Schlesinger vom NDR-Fernsehmagazin „Panorama“.

In schneller Bildfolge wurden dort am Montagabend Beispiele präsentiert, die beweisen sollten, wie sehr sich alte Nazis doch in der DDR hätten etablieren können. Neben Listen ehemaliger NSDAP-Mitglieder wurden die in solchen Fällen üblichen Paradebeispiele - wie der Ex-Wehrmachtsgeneral Arno von Lensky - präsentiert. Abgesehen davon, daß selbst dies schlecht recherchiert war (man hätte auch den ehemaligen DDR-Generalstaatsanwalt Mehlsheimer nennen können) - mehr als die Tatsache, daß auch die DDR vor dem Problem stand, ehemalige Mitläufer der Nazis in die Gesellschaft zu integrieren, bewies dies kaum. Und schon gar nicht, daß hier - im Unterschied zur BRD - Verantwortliche für die Verbrechen des Nazireichs mit Selbstverständlichkeit in Spitzenpositionen gelangen konnten.

Über diese Dutzendware von Geschichtsklitterung wäre kaum zu reden, stünde der gesendete Beitrag nicht in einem eigentümlichen Wider-

spruch zu dem, was „Panorama“ selbst darüber vorab verkündet hatte. Danach war auf Order des DDR-Staatssicherheitsministers Erich Mielke (siehe ND vom Dienstag, Seite 1) verhindert worden, daß einer der mutmaßlichen Mörder Ernst Thälmanns, der ehemalige SS-Obersturmführer Erich Gust, dingfest gemacht werden konnte. Den nämlich hatten Mf S-Ermittler in Meile bei Osnabrück aufgespürt, wo er unter dem falschen Namen Franz Erich Giese ein Edelrestaurant betrieb. In „Panorama“ aber war es plötzlich nebulös nur noch die Stasi, die das Wissen über Gust unterschlagen habe - von einem Befehl Mielkes kein Wort.

Warum nun so unkonkret, da man doch unterstellte, das Mf S könnte den Prominenten-Kneiper Gust alias Giese mit dem Wissen über seine wahre Identität erpreßt haben? Daß es besagte Mielke-Order gegeben hat, kann auch nach ND-Recherchen als gesichert gelten. Zweimal hätten Mitarbeiter des NS-Archivs des MfS Anlauf genommen, Gust namhaft zu machen, einmal zu Beginn der 70er und dann noch Mitte der 80er Jahre...

Daß Gust von der Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung in die Mangel genommen wurde, gilt für ehemalige Mitarbeiter des NS-Archivs als un-

wahrscheinlich. Denn ihrem eigenen Ersuchen um eine „Westermittlung“ in Sachen Gust hätte man nicht stattgegeben, wenn an dem schon andere „dran gewesen“ wären.

Warum also ließ Mielke niemanden an den Gust heran? Hatte er möglicherweise einen Tip vom „Großen Bruder“ bekommen? Oder gab es andere Erwägungen? Diese Fragen stehen ebenso im Raum wie die, was der Verfassungsschutz eigentlich trieb. Immerhin verkehrte in Gusts Restaurant mit Willy Brandt ein amtierender Bundeskanzler. Verfassungsschützer checkten jeden DKP-Briefträger, doch über den Prominenten-Kneiper Giese ist ihnen kein Vorgang bekannt? Die Sache würde in jedem Fall an die jahrzehntelange Verschleppung des Thälmann-Prozesses in der Bundesrepublik rühren, in dem man den mutmaßlichen Mörder Otto übrigens auch ohne das Wissen um Gust hätte verurteilen können.

Zudem wirft die „Affäre Gust“ neuerlich die Frage nach dem heutigen Umgang mit den NS-Akten auf. Zum Beispiel mit den sieben Kilometern Dokumenten über Nazi- und Kriegsverbrechen im ehemaligen MfS-Archiv. „Sehr viele dieser Akten sind einfach ausgeliehen an die Behörde des Bundesbeauftrag-

ten“, sagt dessen heutiger Verwalter Dr. Mathias Wagner. Gemeint ist Gauck. Zum Jahresende gebe man ohnehin einen Großteil ab. Das Bundesarchiv behalte nur die Unterlagen aus der Zeit 1933 bis 1945. Die Recherchen der Staatssicherheit selbst fielen unter das Stasi-Unterlagengesetz. „Das geschieht in gegenseitiger Übereinkunft“, man wolle lediglich noch eine „Abgleichung“ vornehmen, denn „es liegen auch Sachen beim Bundesbeauftragten, die eigentlich uns gehören“. Denkbar, daß dieses Verfahren einige Leute mit „Dreck am Stecken“ aufatmen läßt.

So wird man sich auch an Giese/Gust wohl bald nur noch in dem 45 000-Seelen-Städtchen Meile erinnern, wo der Ex-SS-Mann sein Nobelrestaurant betrieb. „Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein!“, sagt Bürgermeister Clemens Schwertmann. Doch daß in Gieses Gasthof viel Polit-Prominenz verkehrte, mag er nicht bestätigen. „Vielleicht, daß beim Blütenund Trachtenfest ab und an auch jemand aus Bonn...“ Ja, Innenminister Seiters stamme aus einem Nachbarkreis. Gewiß sei aber: Willy Milowitsch und Inge Meysel waren auch schon da