Die Geschichte des deutschdeutschen Kalten Krieges hat viele dunkle und schmutzige Punkte. Einer davon heißt heute Fluchthilfe, hieß zu DDR-Zeiten in Deutschland Ost Menschenhandel. Wer von westlicher Seite als Profi in dem Geschäft steckte, wußte, was er tat und was ihn erwartete, wenn er erwischt wird.
Der Prozeß, der gestern vor der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin begann, stößt genau in diese Wunde deutscher Vergangenheit.
Die Bewertungen haben sich verkehrt, was damals eine Tat zum Schutz der DDR war, gilt im geeinten Deutschland als Verbrechen. Angeklagt ist der 44jährige Hans-Christian Seh. aus Berlin, der heute beschuldigt wird, den damaligen kommerziellen Fluchthelfer Rainer Schubert im Auftrage des MfS in eine Falle gelockt und so seine Verhaftung und Verurteilung ermöglicht zu haben.
Rainer Schubert war kein kleiner Fisch im Fluchtge-
schäft. Fluchthelfer klingt ein wenig bescheiden nach Rot-Kreuz-Helfer, ist aber in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Rund 100 DDR-Bürger hat er illegal mit falschen Pässen, falschen Barten und präparierten Autos von Ost nach West gebracht. Nur wer gut zahlen konnte, war dabei. Rund 20 000 Mark soll er dafür pro Person kassiert haben. Hochdotierte Leute waren darunter, Ärzte, Wissenschaftler, Männer der Wirtschaft. Wo Fluchthilfe im Untergrund wirkte, waren auch Geheimdienste nicht allzu weit. Rainer Schubert war also Staatsfeind ersten Ranges für die DDR. Nur natürlich, daß dieser Mann ins Fadenkreuz des MfS geriet. Es setzte alles dran, dem Mann das Handwerk zu legen und seiner habhaft zu werden.
Und diese Chance bot sich. Über Hans-Christian Seh.. Er kannte Schubert seit 1973, nahm gelegentlich kleine Geschenke vom stets spendablen Freund aus dem Westen an, wußte von seinen geheimen Transportgeschäften und
wirkte an einer illegalen Aktion mit.
Das MfS, das jeden Schritt und das Umfeld Schuberts erfaßte, stieß so auf Hans-Christian Seh.. Ob es ihn unter Druck setzte, er freiwillig seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit bekundete oder direkt auf Rainer Schubert angesetzt war, scheint zweitrangig. Beide verabredeten sich im Januar 1975 im Hotel Stadt Berlin, Rainer Schubert kam, das MfS wußte durch Hans-Christian Seh. Bescheid und packte zu.
Der Fall gehörte zu den spektakulärsten und wurde im Gegensatz zu vielen anderen - in den Medien der DDR breit wiedergegeben. Am 26. Januar 1976 verurteilte der 1. Strafsenat von Groß-Berlin „Rainer Schubert wegen staatsfeindlichen Menschenhandels, teilweise in Tateinheit mit Sabotage im besonders schweren Fall, Urkundenfälschung, Terrors und staatsfeindlicher Hetze zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren“ (ND vom 27 Januar 1976). Die Staatsanwaltschaft
hatte lebenslänglich gefordert. Nach acht Jahren und zehn Monaten kam Rainer Schubert frei und stellte danach in Westberlin Anzeige gegen den, der ihn per Anruf nach Ostberlin holte.
Eineinhalb Jahrzehnte nach den Ereignissen will die Staatsanwaltschaft Hans-Christian Seh. dafür wegen Verschleppung zur Verantwortung ziehen. Er habe aus niedrigen Beweggründen gehandelt, meint sie, und sie will dafür neue Beweise bringen. Der Prozeß ist deshalb ausgesetzt und Rainer Schubert, der heute als Pressereferent beim Bezirksamt Lichtenberg arbeitet, konnte seine Zeugenaussage nicht machen. Doch unabhängig davon, was er aussagen wird, Hans-Christian Seh. hat nach den Gesetzen eines nicht mehr existierenden Staates gehandelt. Daß er dafür bestraft werden soll, macht den Prozeß zu einem hochpolitischen. Auch wenn es keine politischen Prozesse in der Bundesrepublik gibt.
PETER KIRSCHEY
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/392359.im-hotel-am-alex-schnappte-die-falle-zu.html