nd-aktuell.de / 29.12.1992 / Politik / Seite 3

Sie bleiben also Ihren Visionen treu?

Natürlich. Auch deshalb, weil ich schlicht unzufrieden bin. Weil ich unter der Situation sehr leide. Wenn ich Bettler, Obdachlose sehe, dann kann ich doch nicht sagen, das ist der Preis der Freiheit. Wenn ich erlebe, wie Menschen wegen ihrer Biografie beleidigt werden, dann weiß ich, wie riesig die Aufgaben sind. Wir brauchen nicht Visionen für ein nächstes System des Glückszustands, sondern konkrete Utopien, realistische Visionen: mehr Gerechtigkeit, mehr Toleranz, mehr Freiheit, mehr soziale und menschliche Sicherheit. Das Selbstverständnis der Sozialdemokratie ist immer noch, die Schutzmacht der sozial Schwachen zu sein. Diese Identität darf sie nicht verraten.

Die Eskalation der Probleme in Ostdeutschland ist fruchtbarer Nährboden für Rechtsextremismus. Wird er weiter gedeihen oder wird die Vernunft siegen?

Ja, sie wird es schaffen. Es wird länger dauern, als wir das hoffen und wünschen. Die Ursache für Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit, Gewaltbereitschaft liegt in einer elementaren Diskrepanz: einerseits den Wünschen der Ostdeutschen nach schneller Angleichung an den Westen und der Deutschen insgesamt nach ökonomischer, sozialer, menschlicher Sicherheit - verständliche Bedürfnisse. Und andererseits den objektiven Möglichkeiten, das auch zu erreichen.

Wenn ich sehe, wie in diesem Umbruch menschliche Entwurzelung passiert, wie Menschen mit einem ganz konkreten Problemdruck leben - Angst vor Arbeitslosigkeit, vor Mietschulden, vor Entwertung des eigenen Lebenk'-3, r Öä'weiß ich< f Uäß'sle : kuf i eme^ersehfetikende-Weise verführbar^nd. Und'iVeriWtJäW die Brandstifter, die rechtsradikalen Ideologen kommen, dann finden sie fruchtbaren Nährboden.

Eine eindeutige Reaktion des Staates gegenüber rechtsradikaler Gewalt als Verbrechen ist notwendig. Da ist zu spät reagiert worden. Ich denke, daß in Deutschland nun endlich das Bewußtsein da ist, daß der Feind der Demokratie wieder rechts steht. Auch wenn Helmut Kohl und andere Leute von der CDU auf unerträgliche Weise rechts und links gleichsetzen. Darüberhinaus brauchen wir unerhörte Anstrengungen für Jugendarbeit und Kulturarbeit, eine Offensive auch in dem Bereich, den man im weitesten Sinne Erziehung, öffentliche Kultur, Medienkultur nennt. Die Bewährungsprobe der deutschen Demokratie ist erst jetzt gekommen. Die Menschen lernen immer erst in Konflikten, nicht in Idyllen.

Es fragte ROSIBLASCHKE