nd-aktuell.de / 04.01.1993 / Politik / Seite 4

Griff in Taschen der Ärmsten

Berlin/Bonn (dpa/ddp/ND). Bundeskanzler Kohl will den „Wildwuchs bei den Sozialleistungen beschneiden“. In einem Interview mit Radio „Hundert,6“ sagte er am Sonntag, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, „jene zu betrachten, die die Solidargemeinschaft ausbeuten“. Nach seiner Meinung ist es nicht in Ordnung, „wenn jemand im Bereich der Sozialhilfe“, ohne eine Leistung zu erbringen, mehr im Monat von der Solidargemeinschaft bekomme als derjenige, der arbeite. Einzig die Renten seien bei den Gesprächen zum Solidarpakt „tabu“. Ansonsten gehöre alles auf den Prüf stand.

Die Gewerkschaften bleiben dabei: Sie wollen am Solidarpakt nur mitwirken, wenn

Bonn auf „unsoziale Streichlisten bei den Armen verzichtet“ Das betonte die DGB-Vizechefin Engelen-Kefer. Auch Angriffe auf die Tarifautonomie sollten unterbleiben. Zudem müsse die Pflegeversicherung kommen.

Auch der Vorsitzende der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), Issen, bekräftigte, einen Solidarpakt auf der Grundlage der sogenannten Streichliste werde es nicht geben. Es sei „unvorstellbar“, daß die Gewerkschaften ihre Zustimmung dazu gäben, „die Schwächsten in der Gesellschaft noch einmal und überproportional im Vergleich zu anderen zur Finanzierung der Folgekosten der deutschen Einheit heranzuziehen“. Issen kritisierte

u.a. die geplante Kürzung der Arbeitslosenunterstützung. Es sei zudem „geradezu aberwitzig“, in einer Zeit zunehmender Arbeitslosigkeit wesentliche Einschnitte im Instrumentarium der Arbeitsförderung vorzunehmen.

Das Bundesarbeitsministerium kündigte am Samstag an, es werde „eine isolierte Kürzung“ des Arbeitslosengeldes, der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe ablehnen.

Hessens Ministerpräsident Eichel (SPD) verlangte, in einem Solidarpakt auch zu klären, was gegen Wohnungsnot und die „enormen Mietpreissteigerungen“ getan werden könne. Nötig sei eine Änderung des Miet- und Bodenrechts, um Wohnungsbau bezahlbar zu machen.