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  • Politik
  • RUSSLAND: Ein festgeschnürtes Päckchen Hoffnung liegt unter der bunten Jolka

Jelzin jedenfalls sieht ein Ende des Niedergangs

  • unserem Moskauer Korrespondenten KLAUS JOACHIM HERRMANN
  • Lesedauer: 3 Min.

Bis zum 7. Januar bleibt nach russischem Brauch und orthodoxem Kalender die bunte Jolka allemal in der Wohnung. Dann erst beginnt, nicht nur für die Rechtgläubigen, das russische Weihnachtsfest. Das neue Jahr folgt nach Wochenfrist. Unter dem Baum haben nicht wenige Russen trotz aller Plage und Enttäuschung auch heuer wieder ein ganz kleines Päckchen Hoffnung. Das ist fest geschnürt. Ob es sich öffnen läßt, wird nicht unwesentlich vom Wirken der neuen Obrigkeit in Gestalt des Kabinetts von Viktor Tschernomyrdin bestimmt sein.

Dieser betrachtet seine Wahl noch immer als das „allerwichtigste Ereignis in meinem Leben“ und will mit „vollem Einsatz und in aller Verantwortung“ 1993 tätig sein. Sein Vize Saltykow sieht die Chance zur Besserung der Lage darin, daß „wir schon alle unsere Probleme sehen“, und Kulturminister Sidorow freut sich über „Tendenzen zur Wiedergeburt vergessener guter Seiten“ einer alten Kultur. Ganz in diesem Sinne sieht Presse- und Informationsminister Fedotow seine Hauptaufgabe in der Rettung der Massenmedien und Buchverlage vor „unausweichlichen negativen Folgen der Reform“. Kein Übermaß an Optimismus, doch gewisse Hoffnung begleitet also auch die Minister ins neue Jahr.

Ein spezielles Wirtschaftsprogramm für 1993 wird es nach Aussage des 1. Vizepremiers Schumejko allerdings nicht geben. Das Kabinett „richtet seine Anstrengungen auf operative Maßnahmen, die in erster Linie den Fall der Produktion stoppen“ sollen. Neben großen Finanz- und Wirtschaftsgruppierungen sollen das mittlere und kleine Unternehmertum gleichberechtigte Förderung erfahren. Möglicherweise im April könnte dazu ein Programm der Regierung vorgelegt werden, das zugleich protektionistische staatliche Maßnahmen ent-

halten soll. Innen- und Staatssicherheitsministerium sind neue Fahrzeuge und Waffen für den Kampf gegen die wachsende Kriminalität bereits zugesprochen.

Daß nach den „ausschließlich negativen“ Ergebnissen der Wirtschaftsentwicklung 1992 nun Positives folgt, hofft Vizepräsident Ruzkoj. Zwar veranschlagt er für die Rückkehr zu den Leistungsdaten des Jahres 1990 mindestens fünf Jahre, bleibt aber doch optimistisch: „Ich glaube, daß wir diesen schweren Weg gehen werden und Rußland wieder zu einer großen Macht

wird“, ließ er Testflieger wissen, die zur Ordensverleihung in den Kreml geladen waren. Sein Vorgesetzter Boris Jelzin deutete die Richtung, in der es dazu kommen könne: Tage vor dem Jahresende nahm der Präsident als Bürger seine Privatisierungsschecks in Empfang und kündigte Journalisten an, daß er diese in „irgendeinen Investitionsfonds“ einbringe. Das habe Perspektive, warb er.

Gleiches tat er auch in seiner Neujahrsbotschaft. Danach trete das Land 1993 in eine Periode der Stabilisierung der Wirtschaft, der Fi-

nanzen und materiellen Werte ein. Schon jetzt, verkündete'er den skeptischen Bürgern über das Russische Fernsehen, sei ein Ende des ökonomischen Niedergangs sichtbar. Rußland habe den Markt nicht zurückgewiesen, sondern ihn angenommen. Fehler bei seiner Durchsetzung räumte er überraschend auch für sich selbst ein. Bei einer Kopplung der Einkünfte mit den Preisen habe er sich geirrt, schließlich sei er auch nur ein „Marktwirtschaf tler, wie Sie alle...“

Eben gegen diese Marktwirtschaftler will aber die harte Opposition offensiv werden. Aus der Front der Nationalen Rettung ließ der Deputierte Baburin verlauten, daß „der neue Premier sich von Anbeginn als ein Gefangener jener erwies, die immer die Beschlüsse faßten, ohne irgendwelche Posten zu bekleiden“. Sein Kampfgefährte Konstantinow vermerkte, daß das Verbleiben des Privatisierungs- und des Außenministers - Tschubajs und Kosyrew - das Fortwirken der bisherigen Grundorientierungen der Innen- und Außenpolitik belege. Die Front gewinne „Woche für Woche“ an Kraft, und auf der Tagung des Nationalrates am 16. und 17. Januar werde die „Strategie für die Zukunft“ bestimmt. Sollte die neue Regierung nicht bald erste Ergebnisse entgegenzusetzen haben, könnte sie bald schon eine alte sein.

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