nd-aktuell.de / 04.01.1993 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 8

Schwarze und weiße Clowns

In Bonn bleibt es bei dem unterhaltsamen Spiel der schwarzen und weißen Clowns. Anders ist die „Protestwelle“ nicht zu werten, die dieser Tage über deutsche Lande schwappt. Hatte doch Bundesfinanzminister Waigel vergangenen Donnerstag die Kürzung von Sozialleistungen um drei Prozent angekündigt. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und -hilfe müßten „wieder in ein vernünftiges Verhältnis zum Arbeitslohn gebracht werden“.

Zu den nachgerade kuriosen Kommentaren gehört die Bemerkung des Hauptgeschäftsführers der CDU-Sozialausschüsse, Dormann, der in der Verringerung der Sozialleistungen einen „schweren Affront“ gegen den Bundeskanzler sieht. Schließlich habe jener sozial ausgewogene Einsparungen versprochen.

Was Kohl unter „ausgewogen“ versteht, bleibt sein Geheimnis. Fakt ist, daß er nichts anderes als Waigel gesagt hat, als er ankündigte, daß die Renten nicht angetastet werden. Wegen dieser feinen rhetorischen Unterschiede ist der eine Minister und der andere Kanzler. Ansonsten eint sie womöglich tatsächlicher, jedenfalls offen zur Schau getragener Realitätsverlust.

Anders ist es nicht zu begreifen, daß bis zur Stunde nicht Klartext geredet wird. Dazu gehörte es zu sagen, daß drei Viertel der Industrie in den neuen Bundesländern vernichtet sind. Wenn sich nun Kohl den Orden „Retter der Reste“ anheften will, mag er es tun es 'entbehrt allerdings nicht einer gewissen Lächerlichkeit Bis jetzt jedenfalls haben alle Unternehmungen des Kanzlers und seines Finanzministers (soweit nicht auch dessen Kompetenzen längst zur „Chefsache“ erklärt sind) eins gemeinsam: Sie kommen prompt und

medienwirksam - wenn das Kind im Brunnen liegt.

Unterdessen hat der Bundeswirtschaftsminister mitgeteilt, daß er um seinen Rücktritt bittet. Wegen eines „Formfehlers“. Das Mißmanagement der deutschen Einheit, die falschen Vorgaben für die Treuhand-Anstalt, die Zementierung der sozialen Schieflage deshalb tragen sich weder der Finanzminister noch der Kanzler selbst mit Rücktrittsgedanken.

Während aller Schwarzmalerei unverdächtige Wirtschaftswissenschaftler das Ende der Talsohle weiter in die Zukunft verlagern, sieht man sich in Bonn einem selbsttragenden Aufschwung Ost immer näher. Wunschdenken als Politik verkleidet. Und das nach einem Jahr der Einbrüche.

Die falscher Analyse folgenden Maßnahmen verfehlen natürlich ihre Wirkung. Auch im neuen Jahr werden mehr Arbeitsplätze Ost verlorengehen als entstehen. Mit oder ohne „Bestandsgarantie“. Waren in der DDR rund zehn Millionen Menschen erwerbstätig, so sind bis zur Stunde noch rund sechs Millionen Menschen beschäftigt, davon allerdings nahezu eine Million Menschen in ABM oder in Kurzarbeit. Es bleibt also zu konstatieren, daß im Prozeß der Systemtransformation jeder zweite Dauerarbeitsplatz vernichtet wurde. Auch gegenwärtig wird nur jede dritte von den Arbeitsämtern vermittelte Stelle nicht subventioniert.

Angesichts dessen auf die Idee zu kommen, Sozialleistungen zu kürzen und das als Solidarpakt auszugeben - muß man schon sehr heiteren Gemüts sein.

Übertroffen wird derlei Ulk nur vom Chef selbst. Kohl stellte Silvester fest, .man sei in,diesem Jahr.im, Osten „ein gutes Stück vorangekommen“. Schwarze und weiße Clownereien der eine gibt die Stichworte, der andere erntet den Beifall. Nur dem Publikum bleibt das Lachen im Halse stecken.

HELFRIED LIEBSCH