nd-aktuell.de / 16.08.2003 / Wissen

»Wir sind die größten Schwänzer«

Einzigartiges Projekt gibt Schulverweigerern eine neue Chance

Martina Schwager
Tim ist 14 und hat schon lange »keinen Bock mehr auf Schule«. Der von der Baseballkappe halb verdeckte Blick sucht die Zustimmung der anderen. Und die ist ihm sicher: »Wir sind die größten Schwänzer Osnabrücks.« Zu acht hocken sie um den Tisch im Foyer des städtischen Jugendzentrums: Raucherpause im Projekt »Auszeit«, einem vom Land Niedersachsen unterstützten einzigartigen Programm für hartnäckige Schulverweigerer. André Chladek, Chef der Fachberatung für Schulverweigerung in der Stadt Osnabrück, hat im Jahr 2001 fast 600 Bußgeldverfahren für Schulschwänzer auf den Weg gebracht. »Zehn bis 15 Prozent von ihnen haben bis zu zehn Mal einen entsprechenden Bescheid bekommen«, sagt er. Genau diese schweren Fälle versucht Chladek für das Projekt »Auszeit« zu gewinnen. »Wer so lange draußen war, der geht nicht einfach wieder zurück. Denn die Angst, zu versagen, wird immer größer.« Das Sozialministerium in Hannover unterstützt das Modellprojekt, das im August 2002 begonnen hat, nach eigenen Angaben bis 2006 mit jährlich 62000 Euro. Neu am Projekt »Auszeit« ist die ausschließliche Konzentration auf hartnäckige Schulschwänzer und die Gliederung in zwei Bausteine: »Die Fachberatung Schulverweigerung ist zentraler Ansprechpartner für Eltern, Lehrer und Schüler«, erläutert Stadtjugendpfleger Hans-Georg Weisleder. Sie entscheidet, ob eine Aufnahme in die »Auszeit« sinnvoll ist oder ob noch andere Möglichkeiten bestehen, die Verweigerer wieder in die Schule zu integrieren. Der zweite Baustein ist die eigentliche »Auszeit«. Sie hat die Rückführung der Verweigerer in die Regelschule oder, wo das nicht mehr möglich ist, die Weiterleitung in eine berufliche Förderung zum Ziel. Ein Sonderschullehrer, eine Sozialpädagogin und ein Handwerker sollen die 14- bis 17-Jährigen dafür fit machen: in Einzelgesprächen, im Unterricht in Kleingruppen und durch Arbeit in der Werkstatt. »Auszeit ist besser als Schule. Hier muss man nicht lernen«, sagt Tim. »Es gibt nicht so viel Ärger, wenn was nicht klappt. Alle duzen sich. Es ist einfach lockerer«, ergänzt Jürgen. Viel können die Lehrer von den Jugendlichen nicht verlangen. »Wir können hier nur ganz langsam einen Leistungsdruck aufbauen«, sagt Chladek. Und doch haben viele feste Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft. Tierarzthelferinnen wollen Rosi und Iris werden - »wenn wir den Hauptschulabschluss schaffen«. Bei den beiden Mädchen stehen die Chancen nicht schlecht. Sie kommen nur zweimal pro Woche zur »Auszeit«. Die übrigen drei Tage gehen sie zur Schule und versuchen, den Anschluss wieder zu bekommen - eine Variante für die »leichteren Fälle«, so Chladek. Für die meisten anderen sind die Perspektiven nicht so gut. Sie sind fünf Tage pro Woche im Projekt »Auszeit« und nicht mehr in eine Regelschule zu integrieren. Vorbild waren die Niederlande. Dort habe man schon seit Jahren positive Erfahrungen mit Projekten, die nicht auf einer Wiedereingliederung in Regelschulen beharrten und ganz auf restriktive Maßnahmen verzichteten, erklärt Weisleder. Die Osnabrücker haben wesentliche Aspekte übernommen und ihren Strukturen angepasst. Auch im Landkreis Osnabrück läuft das Projekt »Auszeit«. »Die Jugendlichen wissen, dass "Auszeit" ihre letzte Chance ist«, sagt Chladek. »Sie sind sogar erleichtert, wieder einen geregelten Tagesablauf zu haben, ohne Versagensangst und Leistungsdruck.« Und sie sind unter Gleichgesinnten. Keiner lacht, nur weil Jürgen nicht weiß, wie man ein Geodreieck benutzt. »Fragmente sind vorhanden«, sagt Dieter Lottmann, »darauf kann man aufbauen.« Der Sonderschullehrer verbreitet Zuversicht trotz offensichtlich großer Lücken. Die Schüler brauchen jedoch nicht nur fachliche Hilfe, sondern ebenso dringend Unterstützung von zu Hause. »Doch die meisten Eltern müssen erst noch lernen, sich für ihre Kinder zu engagieren«, sagt Sozialpädagogin Sabine Wendholz. In Einzelgesprächen versucht sie, Ängste und Vorbehalte auf beiden Seiten abzubauen. »Unser Vorteil ist: Wir können auf jeden ein Auge haben und nachhaken, wenn mal einer fehlt. Wir sind jeden Tag hart am Ball.« epd