nd-aktuell.de / 22.08.2003 / Kultur

Das Messer geht so sanft zur Kehle...

Büchners »Woyzeck« - eine Theaterprovokation von Michael Thalheimer: Salzburg ist verstört

Hans-Dieter Schütt
Büchner - das ist Dichtung am Rande des Abgrunds; Thalheimer - das ist hier in Salzburg Theater am Rande des Abbruchs. Wenns Kunstblut spritzt, wenn Sprache Ausdruckshemmung wird, konkurrieren lautstarke Zuschauer-Pöbeleien wie »Aufhören!« oder »Unverschämt!« mit Gegenrufen nach Ruhe und Rücksichtnahme. Die Schauspieler werden gezwungen, im Text zu stoppen; ein exaltierter Teil der Zuschauer inszeniert sich selbst, hält Verstörung nicht aus. Dabei dauert alles nur knapp achtzig Minuten.
Georg Büchners »Woyzeck«, von Michael Thalheimer für die Festspiele an der Salzach inszeniert, stachelt den uralten Streit um Werktreue und Interpretationsfreiheit neu an. Immer wieder tun Zuschauer so, als gäbe es für Regisseure bei Stücken, die durch Klassizität in einen besonderen Rang des Gesicherten und Unangreifbaren gerückt sind, ein Pflichtenheft, das unumstößliche Inszenierungsregeln festschreibt. »Dass große Kunst von jedem Arsch vereinnahmt und verstanden werden kann, das muss unbedingt verhindert werden« - damit hat Frank Castorf einmal drastisch darauf bestanden, Theater als Material-Schlacht zu begreifen, die keine geheiligten Texte kennt, sondern nur Steinbrüche, aus denen herausgesprengt werden muss, was uns vor den Kopf schlagen soll.
Thalheimer tuts. Sein Theater ist ein Röntgenapparat. Durchleuchtung findet statt, und das jeweilige Stück wird mit gnadenloser Stringenz und Konsequenz einer einzigen Idee unterworfen. Aussagefolter, kein Entrinnen. Das Erstaunenswerte, Faszinierende: Mag dieser Regisseur schneiden, montieren, wegoperieren - er begreift so sicher das Herz der Dinge, und mag also noch so viel dramatischer Text verloren gehen, der Schrei von Wahrhaftigkeit, der in einer Dichtung eingelagert ist, dröhnt schmerzend, dröhnt unerträglich, dröhnt plötzlich auch in uns.
Peter Moltzens sehr heutiger Woyzeck, weißes Hemd über schwarzer Hose, steht inmitten einer kalt glänzenden Metallzelle (Bühne: Olaf Altmann). Steht und steht. Schaut ins Publikum. Wirft einen Blutbeutel an die Rückwand: »Der Mond, ein blutig Eisen«. Video-Farbfantasien leuchten bisweilen die Zelle aus, assoziieren einen Kopfinnenrausch; Woyzeck beobachtet (oder halluziniert!) die verrenkte Welt, die an ihm vorüberzieht. Das Stück ist nicht mehr Handlung, sondern Tableau. Als habe Woyzeck, ein hypnotischer Zeremonienmeister, all diese Marionetten mit seinem kalten, klaren, wissenden Blick einbestellt, einen nach dem anderen: den feist-protzigen Tambourmajor des Peter Kurth, einen Ausbund an hirnloser Fleischlichkeit; den unscheinbaren Andres der Katharina Schmalenberg, nicht Mann, nicht Frau; den verklemmten Hauptmann (Norman Hacker), im Ausdrucksunvermögen fast platzend; den vom Pulsmessen besessenen Doktor (Peter Jordan), einen Hochnäsling trübster Art. Woyzeck registriert nur lebende Abartigkeiten, sinnwidrige Fratzen - das ruft nach Reinigung.
Und die Marie der Fritzi Haberlandt? Eine Labile, die nicht glücklich werden kann mit diesem ausgekühlten, fäulniskranken Abrechner, der hinter ihr steht wie das Grauen. Eine so winzige, aber starke Szene, wie sie des Tambourmajors Ohrringe probiert, während Woyzeck ihr eine Münze Haushaltsgeld zu geben versucht: Ein Kosmos an Gefühlsstau bricht auf. Weil er die einzige Sekunde verpasst, Marie zu lieben, verspielt er ein gemeinsames Leben. Sie nur ihres. An lauter seidenen Fäden hängt die Balance der Welt.
Das Erregende, Provokative dieser Arbeit: Nicht nur Marie stirbt - Woyzeck mordet alle; der Tambourmajor, dessen Sadismus-Schreie wahrlich peinigen, bringt sich selber um - als stünde er im Sog von Woyzecks Verwünschungen, zerdrückt er einen Beutel Kunstblut am Hals; viel Rot. So ungerührt tötet Woyzeck alle, nur Marie beschreit, bedrängt und schlägt er, sie möge doch selber Schluss mit sich machen. Die verzweifelte Großtat eines letzten menschlichen Gefühls, bei der das geometrische gezirkelt Thalheimer-Theater kurz vom extemporé durchpulst wird. Bis auch Marie in Woyzecks richtenden Armen erschlafft.
Büchners erschütterndste Figur Woyzeck ist hier nicht das unschuldige soziale Opfer, an dem unser Mitgefühl sich so intensiv vergewissern darf. Eine Büchner-Gestalt, die es so noch nie gab: Woyzeck, der Gedemütigte, der Ausgestoßene, wandelt alle Ungeliebtheit, allen Hohn, die ihn treffen, in Aggressivität um - die ihn zum Herrn just jener Verhältnisse macht, deren Objekt er doch ist. Kränkung ist der Schmerz, dass unser Hochgefühlsschild von etwas durchschlagen wurde; Woyzeck denkt sich diesen Schmerz um in eine grausame Selbstbejahung. Damit entwirft Thalheimer - in gewohnt extremistisch hochgetriebener Zeichenhaftigkeit der Gesten und Stellungen - das Porträt einer sehr heutigen Ordnung: in der alle Lebenslust so verhängnisvoll eng an Vernichtungslust gebunden ist, in der die Ratio und das Irrationale so verheerend verquickt sind, in der gebotene Befreiung von Feindbildern nicht die Sehnsucht nach ihnen abtöten kann. Eine Ordnung, in der eben auch jene Gewalt, zu der die Ausgebeuteten zu greifen gezwungen sind, ihren unantastbaren moralischen Kredit verlor - obwohl man zugleich doch Verständnis behält für diese Gewalt. Woyzeck, der Fundamentalist, der Amokläufer, der Attentäter.
Wir wissen längst, dass Aufklärung und auch der groß angelegte Versuch einer sozialen Befreiung der Woyzecks nicht jenen Zustand schufen, der die Welt einsehbarer, erkennbarer, weniger bestialisch und unser Urteil über diese Welt verlässlicher machte. Weil sie arm sind, sind die Woyzecks nicht die besseren Menschen. Thalheimer, ein Regisseur am Ende der Utopien. Die sind zu verklebten Schlager-Sehnsüchten geworden. Während Woyzeck schlachtet, haucht Markus Graf als schlurfig-schmuddliger Barsängertyp permanent »Sag mir quando« und ähnliche Qualitäten unbewegt ins Mikrofon an der Bühnenrampe.
Peter Moltzen spielt in Frankfurt (Main) auch die Hauptrolle in Thalheimers Fassbinder-Adaption »Warum läuft Herr R. Amok?« Büchner antwortet Fassbinder. Eine helllichtige, höllenheiß quälende Korrespondenz durch die Zeiten. Grandios, wie Moltzen - mit nur geringsten Bewegungsspielräumen - uns als Woyzeck hin- und herjagt: zwischen Sympathie für diesen Serienmörder und blankem Erschrecken über dessen eisige Auslöschungsmotorik. Dieser arme Kerl ist bei Thalheimer nicht der denkend Vereinsamende, der nicht ertragen kann, was er begreifen muss (Maries Untreue); er ist nicht länger Beleg für die Bedeutung der sozialen Lage, wo es um Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben geht; nein, in seiner mörderischen Selbstbefreiung ist Woyzeck ein gefährlicher Stilist des bewusst losstürmenden Außenseitertums. Der Absturz kleidet sich in Form, Woyzeck gewinnt im Morden eine Welt zurück, die zwar eine wertlose, aber doch die einzig mögliche ist.
Diese Inszenierung erklärt alle Menschen eines gesellschaftlichen Gefüges, ob sozial oben oder unten, zu gleichermaßen schuldigen Betreibern einer Welt, in der die klaren Machtverhältnisse und Verbindlichkeiten des Zusammenlebens abhanden kamen - und also auch die klaren Antworten, was gut und böse, falsch und richtig sei, worin alle Gewalt wohl wurzele. Woyzeck - dem Mitleid für ihn wurde die Lizenz zum Monopol entzogen. Das Messer springt geradezu sanft an Kehlen, ein Genick bricht, und Umarmungen sind der sichere Erstickungstod. Am Ende »still, alles still«. Furchtbar. Jetzt, wieder draußen im Leben, möchte man wirklich rufen: »Aufhören!« Aber rufen wohin?


Am 4. Oktober Premiere am Thalia Theater Hamburg