nd-aktuell.de / 18.02.1993 / Kultur / Seite 12

Ein hemmungsloser, vollkommener Tango

Aus dem reichhaltigen Tagesangebot des „Forums“ sei „Die dunkle Seite des Herzens“ hervorgehoben. Eine Argentiniade. Eliseo Subielas Erzählung über den nicht mehr ganz jungen Dichter Oliverio ist ein Tango, ein hemmungsloser, vollkommener Tango. Ein Film, der von Gemüt getragen ist, ohne den Zuschauer in Peinlichkeiten zu stürzen, der Gefühl und Schmerz bejaht, ohne auf die Drüsen zu drücken, der in schönster melancholischer Selbstverständlichkeit von der Suche nach der großen, einzigen Liebe, von den Bruchlandungen und geglückten Flügen dabei berichtet. Eine Mixtur aus surrealisti-

scher Schwärmerei und poetischem Volksstück.

Oliverio also macht sich auf Teufel komm raus an Frauen ran, Sex ist wie Achterbahnfahren - zeigt der Regisseur -, auf und ab, keuch und stöhn. Doch die Frauen schmecken Oliveiro, dem Kenner, schnell fade, und er verspürt keinerlei Gewissensbisse, sie kurzerhand aus seinem Bett zu werfen. Heißt, er drückt auf dem Nachttisch ein Knöpfchen, und seine nichtsahnenden Beischläferinnen kippen unter verhallendem Entsetzensschrei in eine Fallgrube. Weg und aus. So handfest geht das zu. Genauso handfest wie die eindeutigen Genital-Plastiken seines Bildhauerfreundes, der wegen Erregung öffentlichen

Ärgernisses regelmäßig eingebuchtet wird. Zusammen mit einem dritten Freund ziehen die Männer oft los, genießen ihre Freiheit, und der Bohemien Oliverio verkloppt seine Gebrauchslyrik gegen Steaks an Kneiper: „Sie wird wild nach Ihnen sein.“

Ana hat ihren Reim auf Oliveiro und sein Tun: „Also bist du eine Hure wie ich.“ Ana ist eine wild-schöne Frau, Animierdame, und Oliveiro kann sie haben. Dann auch ohne Geld. Denn Ana ist für Oliveiro die Frau. Sie kann fliegen. Gemeinsam heben sie ab. Vereinigt schweben sie über der Stadt. Oliveiro hat endlich gefunden, wonach er sich so sehnte. Jetzt kennt er sie, die dunkle Seite des Herzens.

Auch Ana genießt nach Widerstreben, bis sie wieder ihre eigenen Wege gehen muß. Sie läßt Oliveiro in seine eigene Fallgrube poltern. „I'm not for sale, I'm for rent.“

In diesem Film nimmt, wer liebt, sein Herz aus der Brust buchstäblich - und gibt es hin, durch diesen Film wandelt der Tod, eine schwarze, gerade, bis zum Zynismus ehrliche Frau, die Oliveiro ständig drängt, einen Job anzunehmen, dieser Film ist in seinen Tag-Bildern blau-kühl, in seinen Nacht-Bildern braunorange-rot, in diesem Film bestehen die Texte aus vielen Versen, in diesem Film wird getanzt. Und das Saxophon trudelt Töne. Mammamia.

ERNST O. MUHL