nd-aktuell.de / 30.08.2003 / Kultur
Herr Schmölling hatte eine Bremse auf dem Kopf
Der Arterner Heimatchronist ist ein Fernsehstar geworden
Für die Printmedien ist Klaus Schmölling verschenkt. Dort sieht man nicht das runde Gesicht mit den großen runden Augen, die noch größer werden, sobald er sie aufreißt, was häufig vorkommt, wenn er spricht. Auch der Arterner Dialekt, der aus eigentlich »aagentlich« und aus Artern »Ortern« macht, fällt - druckt man die Worte nur - unter den Tisch. Ein Jammer, denn noch der grätzigste Satz entfaltet unwiderstehlichen Charme, wenn er derart eingefärbt ist.
Nein, Schmölling ist ein Fall fürs Fernsehn! Endemol hat das erkannt. Nach Quotenrennern wie »Traumhochzeit« und »Big Brother« dreht die Firma in Kooperation mit dem MDR in Artern jetzt eine Doku-Soap. Sie heißt »Artern - Stadt der Träume«: weil in Artern viel geträumt wird, umso mehr, je weniger Arbeit es gibt - jeder Vierte ist arbeitslos. Kraft des Fernsehens soll sich das ändern. Schmölling ist als »Chronist« besetzt, der uns immer donnerstags mit eigenwilligen Kommentaren und spritzigen Anekdötchen durch die neue Folge geleitet. Und »der sympathische Opa aus dem Osten« ist zu einem Star geworden!
Vormittags sitzt er im Garten seines Lieblingscafés am Markt, vor sich auf dem Tisch ein paar Bücher, »aagentlich« kleine Heftchen, Broschüren - 30 hat er seit der Wende geschrieben. Daneben Ansichtskarten von Artern, die Endemol extra drucken ließ und die er auf Wunsch signiert. Hier hält der heimliche Serienheld Hof. Jeder, der vorbeikommt, grüßt. Doch nicht jeder, der grüßt, ist sein Fan. Es juckt ihn nicht, er empfängt Journalisten und gibt ihnen Interviews.
Warum haben sie mich ausgesucht? Das frage ich mich auch immer. Ich bin ja mit 67 deutlich älter als die meisten anderen Mitwirkenden. Aber schon die Vorhut von Endemol hatte sich auf mich eingeschossen. Dass ich unterhalten kann, bisschen Geschichte, Kultur, Landschaft erklären, ich denke mal, das ist es gewesen.
Ich war auch sofort einverstanden. Als ich, der größte Fernsehmuffel, den es in der Gegend gibt, hinterher erfahren habe, was das für ne Filmfirma ist, hat mich das nicht im geringsten gestört. Denn da kannte ich schon die Leute, als Menschen! Die habe ich akzeptiert. Obwohl ich nicht immer akzeptiere, was se machen. Ich würde Artern etwas durchgängiger vorstellen. Mit mehr Akzent auf Schönheit, auf Optimismus. Zum Beispiel hätte ich am Anfang die geografische Lage mal dargestellt: früher südliches Sachsen-Anhalt, durch Volksentscheid zu Thüringen, Eisenbahnknotenpunkt, kleine, aber feine Industriestadt, die Kyffhäuserhütte, der größte Molkereimaschinen produzierende Betrieb im Warschauer Lager...
Aber sie wollen ja Geschichten aus dem ganz, ganz einfachen Leben erzählen. Endemol sagt: Wir machen keine Reklamesendung für Artern, wir wollen bloß den Bekanntheitsgrad erhöhen. Und da muss auch mal ne Geschichte rein, die für Artern gar nicht so gut ist. Stimmt, das ist die Wirklichkeit. Aber es geht ja weiter, und das ist dann das Schlechte: Ich diene der Filmfirma Endemol und dem Mitteldeutschen Rundfunk als Prellbock. Denn alle Leute, die was zu kritteln haben, wenden sich an mich. Da heißts denn: Schon wieder was Negatives über Artern, das wissen wir doch selbst, wir möchten unsere Heimat mal in nem rosaroten Licht sehen! Manche nehmen auch gewisse Kraftausdrücke übel. Wie unser Bademeister die Fahrräder geschenkt bekam, hat er gefragt: Werd ich auch nicht verarscht? Die Fernsehleute fanden das natürlich herrlich! Ich fand das nicht so herrlich. Und das ist ja nun das Argument: Wir sind bei knapp unter 14 Prozent!
Hier bekommt man dann aber eben auch solche Reaktionen: Wo ich zuletzt eine wunderschöne Kutschfahrt durch Artern gemacht habe mit den Gewinnern eines Preisausschreibens, da rief eine einzelne Person, ich kenne sie nicht mal, über den fast leeren Boulevard: Statt mit der Kutsche zu fahren, solltet ihr lieber Arbeitsplätze schaffen! Das ist ein bisschen zu einfach. Obwohl es mir auch lieber wäre, wir könnten etwas vorzeigen. Das wäre vermutlich allen lieber.
Aber ich habe mir im Gegensatz zu vielen anderen Leuten nie eingebildet, dass ein sofortiger wirtschaftlicher Aufschwung kommt. Das habe ich mir nie eingebildet. Heute wird immer gesagt, ein gewisser Herr hat uns blühende Landschaften versprochen, wo sind die blühenden Landschaften? Einiges ist schon geschaffen worden. Ich sage: Kinder, ihr dürft im Wahlkampf nicht alles glauben. Es ist ja immer eine Sache, wo man steht. Früher hatte niemand ein Telefon, jetzt haben wir ein Telefon. Wir haben in der Kyffhäuserhütte bis zur Wende noch Bürotechnik aus den 20er und 30er Jahren gehabt. Wir arbeiteten noch mit einer Brunsviga-Rechenmaschine und hatten Multiplikationsmaschinen von der weltberühmten Pistolenfirma Mauser; die machte schon Jahrzehnte keine Büromaschinen mehr. Ich bekam jedenfalls meine liebe Brunsviga Anfang der 90er Jahre geschenkt. Weil die keiner mehr haben wollte.
Die Hütte ist ja eingegangen, weil wir keine Partner mehr hatten. Wir hatten 98 Prozent ins sozialistische Lager exportiert. Wenige Nischenbereiche sind nach der Wende geblieben. Die Leute, maximal 200, werden gut bezahlt, machen gute Arbeit und haben auch wieder Partner. Natürlich sind das weniger als zehn Prozent der früheren Belegschaft. Und wir haben auch die Brauerei und die Zuckerfabrik verloren. Die Zuckerfabrik war die drittgrößte in der DDR. Sie wurde von der Südzucker aufgekauft und nach großzügiger Abfindung für die Belegschaft stillgelegt. Nun ist nichts mehr da davon. Obwohl das ja nur etwa 200, 300 Leute getroffen hat, war es doch viel für Artern. Man kann also sagen, 3000 Arbeitsplätze haben wir verloren.
Nur, wenn die Arterner sagen, bei uns herrscht Not, dann unterschreibe ich das nicht. Es gilt nicht für mich. Und es gilt auch nicht für die vielen Leute, die ich hier sehe. In Artern ging noch kein Autohaus pleite. Fakt ist: Manchmal sind ganze Wohnblocks zugeschlossen, weil die Leute alle verreist sind. Das sind dann die notleidenden Personen. Ich schließe ja nicht aus, dass es die gibt. Nur eben nicht zu 100 Prozent.
Ich unterstelle ja vielen Leuten, die heute schimpfen, dass sie permanent etwas verdrängen, indem man z. B. sagt, wir waren sozial geborgen, die sozialistischen Brigaden waren immer schön. Dieser Massenauflauf von saufenden Kollegen hat mir schon damals nicht gefallen. Diese kleinkarierten Siestas, die es in der DDR zur Genüge gab, fehlen mir gar nicht. Ich drückte mich bei jeder Gelegenheit. Jetzt geht es mir natürlich gut - ich kann mich mit jedem unterhalten, ich kann Kontakte pflegen, und das fehlt vielen anderen.
Wissen Sie, es ist doch so: Schon lange vor Endemol schlug mir eine Welle des Neides entgegen, weil ich mit meiner Arbeitszeit und meiner Lebenszeit etwas anfange, Bücher schreibe, ins Theater gehe. Und da wird nun gesagt: »Du hast es gut, jeden Tag machst du deine Aktentasche auf, dann hast du was zu tun, es kommen Leute zu dir. Ich dagegen habe schon drei Mal meinen Garten umgegraben, soll ich ihn noch ein viertes Mal umgraben?« Ich sage: »Geht doch mal in die Bibliothek, holt euch ein gutes Buch, setzt euch in euern Liegestuhl.« Das machen sie nicht.
Diese soziale Komponente, wenn einer Arbeit hat, ist schon wichtig. Arbeit hat mich ja sogar über den Tod meiner Frau hinweggebracht. Schon zwei Jahre nach ihrem Ableben war das Buch über sie fertig. Da hieß es, das ist nicht jedermanns Sache. Das kann nicht jeder, das gebe ich zu. Aber das ist wie ein Kultbuch geworden. Weil ich nicht nur über meine Frau, unsere Liebe geschrieben habe, sondern in das Buch das Leben in der DDR eingepackt habe - das ist ja ein Sittengemälde. 1000 Stück habe ich verkauft, jetzt kommt die zweite Auflage. Dafür habe ich zum ersten Mal in meinem Leben den Überziehungskredit in Anspruch genommen. Wenn jemand ein Buch haben will, bringe ich es ihm in die Wohnung. Das mache ich alles. Ich habe immer Bücher bei mir, weil ich damit rechnen muss, dass einer sagt, hast du das Buch über die Unstrut oder deine Frau dabei. Das ist eine Art des Verkaufs, die mein Sohn kritisiert: dass ich mit seiner Mutter unter dem Arm rumlaufe. Aber mir hat es enorm geholfen.
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Manche sagen: Was muss der alte Mann mit dem dicken Bauch im Fernsehen auftreten? Ich habe in der Kyffhäuserhütte mit ihm gearbeitet, ich muss sagen, mir gefällts. Es ist ja auch wirklich schwer: Zeigen sie das Negative, heißt es, in Artern wird gejammert. Stellen sie das Gute dar, heißt es, was wollen die Leute denn?
Bruno Wagner, 78, Rentner
Es wird immer schlimmer hier. Die Leute kämpfen um ihr bisschen Existenz. Die Jungen müssen wir wegschicken.
Marina Schreier, 42, Kosmetikerin
Artern war nichts, ist nichts, wird nichts. Das ändert auch keine Fernsehserie und unser Herr Schmölling schon gar nicht. Er glaubt, er kennt hier all und jeden, ich finde ihn etwas überheblich.«
Michaele Hoffmann, 20, Kellnerin
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Bücher sind meine Welt, waren es schon immer. Ich lese historische, antiquarische Bücher oder Bücher von kritischen Autoren aus Frankreich und den USA über die gegenwärtige Weltpolitik. Ich muss aber betonen, ganz deutlich und in Dankbarkeit, Endemol hatte damit nie Schwierigkeiten. Ich hatte schon in der dritten oder vierten Folge Gelegenheit, was zum Irak-Krieg zu sagen. Ich habe Blair und Bush aufs Heftigste kritisiert und gesagt, ich bin persönlich beleidigt, dass ich auf so dumme Art belogen werde. Und so isses auch gesendet worden. Jetzt kommt es ja Scheibenweise heraus, und inzwischen kann man das auch woanders lesen. Aber bei Ihnen, im »Neuen Deutschland«, immer etwas früher, etwas deutlicher und etwas genauer. Das war diesem Herrn vom »Spiegel« in der Anfangsphase eine Story wert: Schmölling ist gestandener Konservativer, folglich Mitglied der CDU, und liest das »Neue Deutschland«...
Über 90 Interviews habe ich mittlerweile gegeben, so dass ich schon etwas Übung besitze. Es waren Herrschaften aus der Schweiz, aus Holland, Frankreich, auch von der BBC bei mir. Das kostet mich natürlich Zeit. Beim Drehen geht auch ein dreiviertel Tag drauf, obwohl ich dann sehe, dass zwischen 95 und 98 Prozent nie im Fernsehen erscheint. Es geht alles von meiner Zeit verloren. Und leider kann ich mich nur ganz selten mit Vorschlägen durchsetzen, sehr zu meinem Leidwesen, weil die Dame immer action haben will. Vor kurzem hatte ich zwei Schweizer Professoren zum Thema Heimatgeschichte zu Gast. Da habe ich gesagt: »Frau Weiß, kommen sie doch mal, es kommen nicht jeden Tag zwei Professoren aus Basel.« Da hat Frau Weiß gesagt: »Lieber Herr Schmölling, was macht ihr da?« Ich habe gesagt: »Wir unterhalten uns, tauschen Bücher aus.« »Da komme ich nicht, das ist mir zu wenig action.« Dann habe ich noch gesagt: »Soll ich mit den Herren tanzen oder was?«
Sie sucht also immer etwas Besonderes, worüber die Leute mal lachen, auch mal eine Ungeschicklichkeit. Ich habe es maßlos kritisiert, dass ich mit Endomol drei Mal schon zum Wurstkauf in Fleischereien war. Ich fand das ganz furchtbar. Da kommen dann die Anrufe: »Herr Schmölling, Sie haben in der Fleischerei für 1,96 Euro Wurst gekauft. Sind Sie denn da satt geworden?« Oder eine Dame fragt, ob die Firma Endemol Interesse an dressierten Bienen hätte. Der Grund war, ich hatte es gar nicht gemerkt, während ich mit einem Fußballer ein Interview machte, saß auf meinem Haupt eine Bremse. Das haben sie in Großaufnahme gebracht. Und da war das in aller Munde: Herr Schmölling hat eine Bremse auf dem Kopf gehabt. Und das ist mir natürlich alles ein bisschen zu wenig. Das ist zu wenig!
Ich habe auch schon ein paar Mal gesagt, das mache ich nicht. Zum Beispiel machte der Hundesportverein ein Turnier, da sollte ich hingehen. Ich sagte, dass ich Hunde und Katzen nicht leiden kann. Wenn ich die furchtbaren Katzenvermittlungssendungen im Fernsehen sehe, das ist ein unheimliches Kraulen der Katzen, dann frage ich, wer krault denn mich? Dann sollte ich zu ganz moderner Musik mit einer Dame tanzen. Das habe ich nicht gemacht. Wenn man mir zu Liebe einen Tango aufgelegt hätte oder auch einen langsamen Walzer...
Aber vieles trage ich nun inzwischen mit gewaltiger Fassung, weil ich die Vorteile dieser Sendung als größer einschätze als die Nachteile. Und ich komme einigermaßen gut an. Das merken die Arterner, der Neid ist da. Ich denke mal, auch bei jenen Geschäftsleuten, die nun sagen, warum hatten wir nicht den Mut? Die Hilflosigkeit dieser Leute, etwas mit ihrem Leben anzufangen, andererseits aber auch die Sturheit, ins Fernsehen wollen wir nicht! Das ist an sich widersinnig. Man regt sich auf, du stehst schon wieder im Mittelpunkt, aber wehe, du kommst mit der Kamera, dann reißen wir alle aus!
Da sind wir wieder bei der Mentalität der Arterner. Ich stelle immer wieder fest, wenn Artern einen Posten zu vergeben hat mit Verantwortung, dann melden sich fast nur Auswärtige. Schon damals, zu DDR-Zeiten, waren die meisten unserer Bürgermeister Importe. Unser jetziger Bürgermeister ist ja auch kein Arterner. Er wohnt zwar im Moment in Artern, muss es auch. Die Arterner trauen sich nichts zu. Das ärgert mich natürlich. Eine Erklärung habe ich nicht. Eigentlich nur die Tatsache, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Arterner zu schnell von Ackerbürgern zu Industriearbeitern wurden. Sondershausen war Residenz, hatte große Orchester, einen eigenen Fürsten, eine eigene Garnison... Artern hatte die Industrie, Tausende von Arbeitsplätzen, aber wenig Kultur, fast keine Kunst. Ich sage immer, ganz unparteiisch, Sie können ja eine Herrschaft aus Baden-Baden mit den Bauern von den ostfriesischen Inseln auch nicht vergleichen.
Aber es stimmt natürlich: Die Leute sagen, jetzt hocken schon wieder drei um den Schmölling herum, was bringt das eigentlich mir? Die Frage muss man sich ja stellen. Trotzdem muss ich anerkennen, dass Endemol sich wirklich bemüht, für Artern was zu tun. Mit den Fernsehmitteln. Wir haben in Kürze Bürgermeisterwahl, das wird ja auch wieder einen gewissen Medienauftrieb zur Folge haben in Verbindung damit, dass wir pleite sind. Wobei ich auch da wieder sage, das Problem ist hausgemacht - es muss doch möglich sein, sich über den Haushalt einer 6700-Einwohnergemeinde mal einig zu werden. Ob es möglich ist, werden Sie sicher bei Endemol sehen können. Oder gucken Sie auch kein Fernsehen?
Notiert von Christina Matte
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/40633.herr-schmoelling-hatte-eine-bremse-auf-dem-kopf.html