nd-aktuell.de / 30.04.1993 / / Seite 21

Armer toter Lenin!

Armer toter Lenin!“ Diese handschriftliche Anmerkung findet sich auf einem Exemplar der „Prawda“ vom 28. November 1969 neben einem Bericht über die Diskussion des 3. Unionskongresses der Kolchosbauern in Moskau. „Alles brave, bestellte Sätze. Problemlose Festreden! Leben und Reden - welche Kluft.“ Der dies an den Zeitungsrand notiert hatte, war Anton Ackermann, der eigentlich Eugen Hänisch hieß, in Thalheim (Erzgebirge) in einem kinderreichen Proletarierhaushalt aufgewachsen und bereits in jungen Jahren zur KPD gestoßen war. Seit der Brüsseler Parteikonferenz 1935 gehörte er als Mitglied des ZK und Kandidat des Politbüros der Führung der KPD an. Ackermann, der illegal in Berlin, Frankreich und auch im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, wirkte an der Ausarbeitung nahezu aller Dokumente mit, die auf eine Neuorientierung der Politik der KPD zielten. Der Text des Aufrufes der KPD vom Juni 1945 stammte aus seiner Feder. Im Parteivorstand der SED gehörte er als Mitglied des Zentralsekretariats erneut zum engeren Führungskreis. 1948 indes geriet er wegen seiner These vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus unter massiven Beschüß. Was zuvor noch als schöpferische Anwendung des Marxismus-Leninismus galt, war

nach dem Kominformbeschluß zu Jugoslawien plötzlich eine gefährliche Abweichung. Von Ackermann wurde prinzipielle und öffentliche Selbstkritik abverlangt... »

Nach dem 17 Juni 1953 wurde er wegen Unterstützung der „Gruppe um Herrnstadt/Zaisser“ endgültig aus der SED-Führung gedrängt. Erst nach zwölf Jahren erfolgte seine stillschweigende Rehabilitierung. Zu diesem Zeitpunkt stand seine Rückkehr in die Politik nicht mehr auf der Tagesordnung, zumal ihn auch seine schwer angegriffene Gesundheit daran hinderte. Seit 1962 invalidisiert, mußte er sich weitgehend mit der Rolle des Beobachters begnügen - er war ein aufmerksamer und kritischer. Politische Lebenserfahrung, theoretisches Gespür sowie die Distanz zur praktischen Politik hatten seinen Blick für Widersprüche geschärft. Sein Zeitungsarchiv im Nachlaß vermittelt interessante Aufschlüsse.

Mit großer Sorge verfolgte er insbesondere die sich mehrenden Anzeichen ernster Deformationen in der Sowjetunion. Meldungen über Korruption sowie Willkür von Staats- und Parteifunktionären trafen ihn, der sich diesem Land immer stark verbunden

fühlte, schmerzhaft. „Solche Zustände können die Sowjetmacht langsam aber sicher zugrunde 1 richten“, Vermerkt er im November 1969 nach der Lektüre der „Prawda“.

Entschieden negiert er Versuche, Makel und Mängel der sozialistischen Gesellschaft in der UdSSR nahezu ausschließlich als Erbe kapitalistischer Vergangenheit zu deklarieren. „Die negativen Erscheinungen sind eben nicht nur Reste und Überbleibsel der alten Ordnung; sie sind auch nicht nur das Ergebnis schlechter Erziehung im Elternhaus, in der Schule, in anderen gesellsch(aftlichen) Einrichtungen; sie haben auch ihre Wurzeln in falsch angesetzter materieller Interessiertheit, in negativen ökonomischen... und sozialen... Zuständen, unbegründeten Privilegien“, notiert er zum Jahreswechsel 1967/1968. Ersieht den Handlungsbedarf in der sozialistischen Gesellschaft selbst, fordert Fehleranalyse, Kurskorrekturen, Durchsetzung „reale(r) sozialistische^) Demokratie“. In der „mehr oder weniger um sich greif ende(n) Herrschaft einer privilegierten ,Elite' auf der Basis steigender sozialer Differenziertheit“, sieht Ackermann 1970 „die ernsteste Deforma-

tionserscheinung von Belgrad über Berlin bis Moskau“ In dieser Sentenz wird ein wesentlicher Aspekt' seines Demokratieverständnisses sichtbar. Erhebliche, soziale Unterschiede und Benachteiligungen sind für ihn. unvereinbar mit' wirklicher Demokratie, wie sie seinem Ideal vom Sozialismus vorschwebte.

In seinen Zeitungsmarginalien kritisiert er auch, daß die „führende Rolle der Arbeiterklasse“ nicht nur deklariert werdensollte,sondern „realen konkreten Ausdruck auch im staatlichen Leben finden“ müsse. Unvereinbar mit dem Ideal der sozialistischen Gesellschaft war für ihn die Kluft zwischen Wort und Tat, Bilanzen und Wirklichkeit. Der Aufruf zum 20. Jahrestag der DDR-Gründung ist für ihn ein typisches Beispiel. „Ein Aufruf über die Köpfe der werktätigen Menschen hinweg“, urteilt Ackermann. „Ein Schulbeispiel (,ModellfalT) der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wortgeplärr. Wir können vor lauter Erfolgen gar nicht mehr aus den Augen schauen. Preis-, Versorgungs-, Dienstleistungs- und Einkommensprobleme gibt es nicht. Auch keine Wohnungsnot, keine wachsenden sozialen Gegensätze, keine zunehmende Indifferenz

der Arbeiter + Bauernmassen“. Zu seinem Verständnis von Sozialismus gehörte: „Übereinstimmung von Wort und Tat, Wort und Wirklichkeit, den arbeitenden Menschen nicht manipulieren^ über“alleivvvas ihn betrifft^ in-* formieren, bewußte sozialistische) ' 'Haltung und' nicht Kriechertum belohnen“ .

Trotz seiner kritischen Haltung zum Zustand der sozialistischen Gesellschaft lehnte Ackermann Überlegungen, wie sie 1968 in der CSSR diskutiert wurden, ab. Was sich dort tat, war auch für ihn Konterrevolution. Deshalb hielt er die Intervention für „notwendig und richtig“

Ackermanns Credo in Sachen Sozialismus wird aus einer kurzen Notiz von 1967 deutlich: „Der Sozialismus ist nicht nur eine sozialökonomische Kategorie, sondern auch eine sittliche Größe, ein ethischer Imperativ, eine moralische Haltung, das des lebendig werdenden Humanismus; eine hohe Idee als Sache der Wissenschaft, des Geistes und des Herzens“ Diesem Anspruch gab Ackermann, der sich wie viele seiner Zeitgenossen nicht in ein Klischee pressen läßt, bis zuletzt Chancen. Er starb am 4. Mai 1973. Prof. Dr JÜRGEN HOFMANN (Unser Autor hält am 4, Mai im Haus am Kölnischen Park in Berlin, 19.30 Uhr, einen Vortrag über Ackermann)