nd-aktuell.de / 06.05.1993 / Politik / Seite 5

Richter sollten „politisch“ urteilen

Im ersten Gerichtsverfahren zu den Waldheimer Prozessen von 1950 ist die Staatsanwaltschaft jetzt auf bislang unbekannte Beweismaterialien gestoßen. Am 30. Verhandlungstag . gegen den damaligen Richter Jürgens vor dem Leipziger Landgericht führte Staatsanwalt Bauer am Mittwoch Akten aus dem Archiv des DDR-Innenministeriums in die Verhandlung ein, die er erst am Dienstag im Potsdamer Bundesarchiv entdeckt hatte. Es handelt sich um Sitzungsprotokolle vom April 1950. Aus ihnen geht hervor, daß die Waldheimer Richter und Staatsanwälte in Besprechungen mit Parteiführung, Justizministerium und Volks-

Eolizei angehalten wurden, ei der Urteilsfindung „keinesfalls nach formaljuristi-

schen, sondern politischen Gesichtspunkten“ vorzugehen. Sie sollten nach dem „Kollektivschuld-Prinzip“ verfahren und „keine Urteile unter zehn Jahren“ fällen.

Nach Ansicht von Bauer erhärten die neuen Dokumente von vornherein einkalkulierte Strafrechtsverletzungen. Zudem bestätigten sie die bereits von mehreren Zeugen geäu-ßerte Meinung, daß es konkrete Vorgaben für das Strafmaß gab. Der Angeklagte Jürgens, der im Sommer 1950 in Waldheim als Beisitzer wirkte, hatte dies zumindest für die ihm vorgeworfenen 15 Fälle der Rechtsbeugung bestritten.

Die Zeugin Tieth (68), die als Protokollantin in der 8. Kleinen Strafkammer von Waldheim wirkte, bestätigte erneut, daß es weder Zeugen

noch Verteidiger gab. Die Vorgeführten seien jedoch vom Gericht „ordentlich behandelt“ worden. Es sei zu einem Zwiegespräch zwischen Angeklagten, Staatsanwalt und Gericht gekommen. Das Gericht sei erst nach einer Beratung zu seinem Urteil gekommen.

Jürgens wird Rechtsbeugung in Tateinheit mit Mord in einem Fall und mit Freiheitsberaubung in 14 Fällen vorgeworfen. In den bisherigen Vernehmungen hatte er bereits zu harte Strafen und Verstöße gegen die Strafprozeßordnung eingeräumt, die Waldheimer Prozesse jedoch als „gegen Naziverbrecher gerichtet* verteidigt. Eine Mitwirkung am Todesurteil gegen den NS-Staatsanwalt Rosenmüller bestritt er. ADN/ND