nd-aktuell.de / 07.05.1993 / Kultur / Seite 13

Stich ins Hornissennest

Es heißt, daß die Geisteswissenschaftlerin Camille Paglia für ihr Werk „Die Masken der Sexualität“, eine umfangreiche Kulturgeschichte, die bei 30 000 Jahre alten archäologischen Fundstücken beginnt und bei Emily Dickinson endet, zehn Jahre lang vergeblich einen Verleger gesucht habe, bis es 1990 in den USA ein Bestseller geworden sei. Inzwischen gibt es die deutsche Übersetzung, die Aufmerksamkeit ist groß, und die Kritiken sind Verrisse. „Ihr Weltbild hat sie aus Büchern und Filmen übernommen, die komplizierte Wirklichkeit ist nicht ihr Ding“ (Der Spiegel). In „Konkret“ stellte Christel Dormagen die Vermutung an, daß das Buch erst jetzt/publiziert worden sei, weil,es zum „reaktiöhär-fraueiifeihdlichen Rollback in Amerika“ passe: „Camille Paglia ist die übersollmäßige Bauchrednerin dieser Entwicklung.“

Denn das Buch ist beileibe keine trockene kulturhistorische Abhandlung, sondern eine mit Verve, Eleganz und Schärfe vorgetragene Streitschrift gegen rousseauistische und feministische Ideologien. Camille Paglia wendet sich ebenso vehement gegen die idyllisierende Verklärung der pflanzlichen, viehischen und menschlichen Natur wie gegen die Mythen der Frauenbewegung: „Die derzeitige gesellschaftliche Karriere der Frau ist keine Reise vom Mythos zur Wahrheit, sondern von altem Mythos zu neuem Mythos.“ Dabei zieht Paglia des öfteren Kurzschlüsse, die polemisch brillant, aber auch ergreifend albern sind. Daß Männer beim Pinkeln einen „Transzendenzbogen“ schlagen können, während es Frau-

Camille Paglia: Die Masken der Sexualität. Byblos Verlag, Berlin. 855 S., geb., 58 DM.

en beschieden ist, bloß die Erde unter sich zu düngen, ist ein denkbar haltloser Indizienbeweis für die behauptete kulturelle Vorrangstellung des Mannes. Feministinnen macht sie die Kritik leicht.

Das ist schade, denn das Buch ist erheblich besser als sein Ruf, den es sich durch seine katastrophal verunglückten Passagen erworben hat. Gelegentlich ist Camille Paglia bei der Niederschrift zu einer so atemberaubend brillanten Form aufgelaufen: „Ein jtnit Früchten überladener Apfelbaum: was für ein. friedlicher, reizender Anblick. Aber setzen wir die rosarote Brille unseres Humanismus ab und schauen wir noch einmal hin. Dann sehen wir, wie die Natur schäumt und überquillt, sehen, wie sie ihre Samenblasen unablässig heraussprudelt und in jenem unmenschlichen Kreislauf aus Verschwendung, Fäulnis und Metzelei zerplatzen läßt. Von den dicht gepackten glasigen Körpern des Fischrogens bis zu den gefiederten Keimen, die sich aus platzenden grünen Schoten in alle Winde zerstreuen, ist die Natur ein wimmelndes Hornissennest aus Aggression und verschwenderischer Überproduktion. Dies ist die chronische schwarze Magie, von der wir als sexuelle Wesen infiziert sind; dies ist die dämonische Identität, die das Christentum mit dem so unzulänglichen Begriff der Erbsünde belegt und von der es uns glaubt reinigen zu können.“

GERHARD HENSCHEL