nd-aktuell.de / 28.06.1993 / Kommentare / Seite 2

Sozialabbau ja, aber „behutsam“

HANNELORE HUBNER

Auf die Bretter haut's Norbert Blüm nicht so schnell, gelegentlich aber geht er auf jene, .die die Welt bedeuten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er die Theaterkulisse als Probebühne nutzt. Nachdem er kürzlich als Chorknabe „Kein schöner Land in dieser Zeit“ trällernd, die jüngste sozialpolitische Entwicklung prognostizierte, schlüpfte er jetzt im badischen Breisach in die Rolle des Diener Dennis in Shakespeares „Wie es Euch gefällt“ - um hernach die ständigen Anwürfe aus Unternehmerkreisen titelgemäß zu beantworten: „Die Deklaration des privaten Essens, der privaten Reise, des Privat-Pkw der privaten Haushaltshilfe als Betriebsausgaben ist an der Tagesordnung...“. Die bestürzenden Ergebnisse der bundesweiten Razzien zeigten deutlich, „daß von einer Reihe von Arbeitgebern ein großes Maß an krimineller Energie entwickelt wird, um die Solidargemeinschaft zu betrügen“. Blüm hat offensichtlich nicht nur auf

der Bühne Erfolg - die Unternehmerschaft machte ein „Friedensangebot“. Voraussetzung sei allerdings der Verzicht auf die Pflegeversicherung.

Nur, so ohne weiteres kann die Bundesregierung das Kriegsbeil nicht begraben, selbst wenn sie wollte. Dazu hat sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt. Erst am Wochenende erklärte der Kanzler, die Pflegeversicherung sei „ein Herzstück der Unionsprogrammatik“, wer sie zeitlich verschieben will, „vertagt sie nicht nur auf die nächste Legislaturperiode, sondern auf einen wesentlich späteren Zeitpunkt“. Und mit dieser seit 25 Jahren ungetilgten Schuld traut sich die konservativ-liberale Koalition offensichtlich nicht mehr in den Wahlkampf. Sie hat wohl inzwischen auch bemerkt, daß es nicht viel gibt, was sich als Erfolg verkaufen läßt.

Die Unternehmerschaft aber will auf keinen Fall Abstriche an ihrem Ziel vorneh-

men - das schlicht darin besteht, alles über Bord zu werfen, was notwendig war, solange in Ostdeutschland der Versuch einer sozialen Alternative existierte. BDI-Präsident Tyll Necker wurde denn auch am Samstag vor dem Grundsatzforum der CDU in Bonn sehr konkret, als er die Bundesregierung aufforderte, die „veränderten Koordinaten nach dem Zusammenbruch des staatlichen Sozialismus“ zur Kenntnis zu nehmen. Soziale Kürzungen dürften nicht damit verhindert werden, daß man „den sozialen Frieden um jeden Preis zur Monstranz“ erhebe. Deutlicher geht's nimmer.

Kernstück des Sozialstaatkompromisses ist bekanntlich die beitragsfinanzierte Sozialversicherung, an der sich die Unternehmer - entsprechend dem Verfassungsgrundsatz „Eigentum verpflichtet“ - mit halben Beiträgen zu beteiligen haben. (Was freilich nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß diese sogenannten Arbeitgeberanteile auch nichts an-

deres sind als Lohn, der den Arbeitnehmern vorenthalten wird.) Wenn die vereinte Unternehmerschaft so vehement gegen die' 1 Pflegeversicherung vorgeht, kämpft sie also nicht um die 8,5 Pfennige, die sie pro verdienten Zehnmarkschein bezahlen müßte, sie kämpft gegen die Sozialversicherung überhaupt, die abzuschaffen sie auf ihre Fahnen geschrieben hat. Und die mit der Installation einer Pflegeversicherung - mag sie auch noch so unzureichend sein -Erweiterung und damit eine Stärkung erfahren würde.

Darin aber besteht der Interessenkonflikt, die Bundesregierung kann dabei (noch!) nicht mitspielen. Sie hat zwar prinzipiell nichts gegen eine soziale Demontage, plädiert aber für ein „behutsames Umsteuern“. Deshalb ist denn auch die Bemerkung von Blüm, im Sozialstaat „haben wir es nicht mit Bauklötzchen zu tun, sondern mit Menschen“, mit äußerster Skepsis zu bewerten.