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  • Kultur
  • Wieder neu am Wiener Burgtheater: „Heldenplatz“ / Ein Skandal kam in die Jahre, seine Wahrheit nicht

... gibt es doch heute mehr Nazis als früher

  • Lesedauer: 4 Min.

Ein hoher Raum; darin erzählt wird die Geschichte eines tiefen Sturzes. Eine Zimmerflucht; ein Zimmer als Ausgangspunkt einer letzten Flucht.

Ein vor den Nazis geflohener Professor kehrt Jahrzehnte später nach Österreich zurück, ins Land, in dem „sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige“ leben. Durch einen Sprung aus dem Fenster seiner Wiener Wohnung begeht er Selbstmord. Sie liegt vis-ä-vis jenem Heldenplatz vor dem Burgtheater, der in besonderem Sinne Schauplatz war: 1938 jubelten Tausende Hitler zu, weil der sie heimholte ins Reich.

Im Stück, wird gesagt, es gebe in Österreich heute „mehr Nazis in Wien als im Jahre 1938“ - und: „In Österreich mußt du entweder katholisch oder nationalsozialistisch sein, alles andere wird vernichtet.“ Land und Gegenwart seien eine „geist- und kulturlose Kloake“, welche „in ganz Europa ihren penetranten Gestank verbreitet“.

1988 uraufgeführt, löste Thomas Bernhards Stück vor und nach der Premiere einen der größten Skandale deutschsprachigen Theaters aus. Eine geniale Beschimpfung lockte wider alle Stachel. Künstlerzorn kontra „Volkszorn“ - was da von der Bühne sprühte, war Säure wider alle mühsam gepflegte Wohlanständigkeit; selbst das ehrwürdige Ensemble spaltete sich mit greller Vehemenz.

Nun hat Burgtheaterdirektor Claus Peymann (großer lachender Mund, empfindsamer Rücken, dünne Haut) nach fast zweijähriger Pause seine eigene Inszenierung wieder in den Spielplan aufgenommen. Nicht der Skandal wiederholt sich, aber das Ereignis: präzises Schauspieltheater und geistig-polemische Wucht.

Nach dem Begräbnis des Selbstmörders ergehen sich Familienmitglieder in bitterer, trauriger, fragender, hilfloser Erinnerung. Peymanns Menschengestaltung und

Bernhards Dramatik ergeben eine bedrückende Ästhetik des Beschwerdebuchs: Wer immer den Mund aufmacht, grantelt vor sich hin. Die Satzketten, kaum rational und logisch, sind assoziativ und aphoristisch aneinandergereiht. Daseinsverfinsterung schlägt jäh durch, und sei es, eine Haushälterin prozediert, wie man richtig Hemden bügelt.

Zwei Grundformen der Verlautbarung hat Bernhard zur Krone moderner Dramatik erhoben: das Dozieren und das Lamentieren. Nahe Beckett ist Robert angesiedelt, der Bruder des Selbstmörders: Wolffang Gasser spielt einen Leensbilanzierer par excellence, tödlich bedroht von Senilität, doch ebenso nah jenem Boulevard der Altersdämmerung, der noch der 1 Arteriosklerose unerwarteten Charme verleiht.

Annemarie Düringers Haushälterin (grandioses Lebewesen aus gebeugtem Rücken und erhobenem Haupt; stille Teilhaberin einer nie zustandegekommenen Liebe), dann Kirsten Dene als Tochter des Professors und Marianne Hoppe beim kurzen Part der Witwe: Kein Exkurs in willkürliche Erfindungslüste, keine Selbstablenkung dadurch verstärkt sich der Binnendruck der Szenen bis zu extremen Grenzwerten dessen, was sich auf einer Theaterbühne über das Zugrundegehen von Menschen sagen läßt. Virtuoses Schimpfen, gedrechselte Tiraden gegen Gott und dessen kleinkarierte Welt. Tod und Gelächter erscheinen als klassisches Possenpaar; gemütliche Geschichten, neoenbei erzählt, geraten unversehens zu Wahnsinns-Etüden.

Die Wiederaufnahme des Stücks geschieht in bezeichnender Zeit, da politisch wie geistig, wohin man auch blickt, zentrale Begriffswel-

ten, Ideen und Wertvorstellungen ihre angestammte Bedeutung verlieren - um schließlich oft genug ins eigene Gegenteil umzukippen. Unversehens verkehren sich Licht in Finsternis, Rettung in Verdammnis, Himmel in Hölle, Komödie in Tragödie. Nein, in letzterem Falle: umgekehrt.

Dank Bernhards/Peymanns Virtuosität wirkt diese wechselseitige Entwertung der Kategorien wie ein artistisches Sprachspiel: Der Verlust jeder verbindlichen Weltordnung als letztmöglicher Ausweg. Und die einzige Sicherheit: die Katastrophe. Wohin wir auch schauen: Alle Fenster blicken auf Heldenplätze.

Claus Peymann und die 79. Vorstellung von „Heldenplatz“ an der Burg. Der Skandal ist verrauscht. Thomas Bernhard ist tot, kein Wiener haut ihm mehr den Spazierstock über den Schädel. Die Zeit, da berühmte Kammerschauspieler aus der Inszenierung ausstiegen („So etwas spielen wir nicht!“), verging ebenfalls. Aber sofort zur Wiederaufnahme stürzt sich der Burg-Herr geradezu gierig in ein Zuschauergespräch. -Claus Peymann, ist „Heldenplatz“ inzwischen wirklich noch mehr als nur eine Schule der Geläufigkeit?

Das Stück ist so aktuell wie zeitlos in seiner Zukünftigkeit: Es ist ein Endspiel. Die wahren Helden in der Gesellschaft sind geblieben: Nestbeschmutzer und Vaterlandsverräter zu sein - das ist die letzte Definition von möglicher Würde.

Und der Sinn des Lebens, die gesellschaftliche Integration als Sinn von Selbstbestimmung?

Selbstbestimmung! Was ist denn das. Bernhards Kunst zeigt verstümmeltes Leben.

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