»Triumph der Unterdrückten«

Massenproteste erzwangen Präsidentenwechsel

  • Tommy Ramm, Bogota
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.

»Jemand mit so vielen Toten auf dem Gewissen kann dieses Land nicht weiter regieren«, rief eine aufgebrachte Volksmenge am Freitag im Zentrum von La Paz. Wenige Stunden später trat Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada widerwillig zurück.

Der Rücktritt des Präsidenten, dessen zweite Amtszeit lediglich 14 Monate währte, lässt die Bolivianer zunächst durchatmen. Massive Proteste hatten das Land in den letzten Wochen lahm gelegt. In der Hauptstadt wurden die Märkte wegen Lebensmittelknappheit geschlossen, Benzin war Mangelware. Um »Ordnung« zu schaffen, hatte Sanchez de Lozada auf die Demonstranten schießen lassen. Mindestens 74 Menschen sollen in den letzten Tagen ums Leben gekommen sein, über 500 wurden verletzt. Die demonstrierenden Arbeiter und Kokabauern unter Oppositionsführer Evo Morales zeigten sich daraufhin kompromisslos und forderten den Rücktritt des Präsidenten. Auch im Parlament verlor Sanchez de Lozada seinen Rückhalt, selbst Vizepräsident Carlos Mesa distanzierte sich von ihm. Mesa wurde in der Nacht zum Sonnabend im Parlament als neuer Präsident vereidigt. An ihm, einem angesehenen Journalisten und Historiker, liegt es nun, das Land aus seiner schweren Krisen zu führen. Gleich nach seiner Vereidigung bat er das Parlament, einen Termin für Neuwahlen anzuberaumen. Seine Regierung, die ausschließlich aus Unabhängigen wie er selbst bestehen werde, sei nur als Übergangskabinett zu verstehen. Der 50-jährige Carlos Mesa versprach überdies eine Änderung der Energiepolitik. Den Anlass zu den blutigen Protesten hatte nämlich der Plan Sanchez de Lozadas geliefert, bolivianisches Erdgas an die USA und Mexiko zu verkaufen und den Transport über einen chilenischen Hafen abzuwickeln. Die Demonstranten kritisierten, das von diesem Geschäft lediglich Chile, die USA und ausländische Investoren profitieren würden, nicht aber die verarmte bolivianische Bevölkerung. Bolivien hatte seinen Zugang zum Pazifik 1879 an Chile verloren, eine Schmach, die man dem Nachbarland bis heute nicht verzeiht. Für den Gasexport mag Carlos Mesa einen Ausweg finden, schlüssige Lösungen für die drückenden wirtschaftlichen Probleme des Landes - die wahren Wurzeln der Proteste - sind dagegen kaum absehbar. Zwei Drittel der Bevölkerung leben in Armut. In den letzten drei Jahren hat sich die Arbeitslosigkeit mehr als verdreifacht, das Haushaltsdefizit auf fast neun Prozent erhöht. Der Versuch, das Defizit durch höhere Einkommensteuern auszugleichen, rief im Februar ähnliche Proteste wie in den letzten Wochen hervor. 35 Menschen kamen damals ums Leben. Diktiert hatte die Steuererhöhung seinerzeit der Internationale Währungsfonds IWF, der dem Land dieses Jahr Kredite von 118 Millionen US-Dollar eingeräumt hat. Hilfe in der Not, aber nicht auf lange Sicht. Boliviens Schulden belaufen sich wieder auf knapp die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Erst im Juni 2001 war das Land in den Genuss eines Schuldenerlasses von 15 Prozent des BIP durch die Industriestaaten gekommen. Nur eineinhalb Jahre später sitzt es erneut in der Schuldenfalle. »Wir werden dem neuen Präsidenten etwas Zeit lassen, um sich zu organisieren und seine Versprechen zu verwirklichen«, ließ Oppositionsführer Evo Morales wissen und erklärte die Proteste für vorerst beendet. Morales nannte den Sturz von Sanchez de Lozada »einen Triumph der seit 500 Jahren unterdrückten Menschen in Bolivien und der Opfer des Neoliberalismus«. Seine Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) will den gestürzten Präsidenten vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermords anklagen. Der seit Jahren für Kontroversen sorgende Morales ist auch seinem eigenen Triumph einen Schritt näher gekommen. Bei den letzten Wahlen hatte er die Präsidentschaft nur knapp verfehlt, bei den nächsten dürfte er weit bessere Aussichten haben. Die Rechte im Land wetzt bereits jetzt die Messer: »Gott bewahre uns vor diesen Terroristen und Drogenhändlern«, flehte eine Abgeordnete der Partei des Expräsidenten angesichts der gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Kokabauern. Ausländische Kräfte wie die kolumbianische Guerilla und Libyen stünden hinter den sozialen Bewegungen. Deren Erfolg im Kampf gegen die Regierung könnte indes Auswirkungen auf die ganze Region haben. Der Fall Bolivien könnte eine Art Initialzündung sein, die auch die bisweilen schwachen Institutionen in anderen Ländern des Kontinents erschüttert. Tatsächlich kündigte etwa der ekuadorianische Dachverband der Indigenas am Freitag an, Straßenproteste gegen die Regierung Lucio Gutierrez zu organisieren. Die Indigenas hatten erst im August die Regierungskoalition verlassen, da die Politik von Präsident Gutierrez »Verrat an den Indigenen« s...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.